Das Wunderargument besagt im Kern:
Explanandum: Es gibt bestimmte Leistungen oder Eigenschaften der Wissenschaft, die ein erklärungsbedürftiges Phänomen P darstellen.
Explanans: Der wissenschaftliche Realismus ist die einzige Erklärung für P, die P nicht zu einem Wunder macht. Daher auch der Name des Arguments.
Richard Boyd hat eine interessante Version des Wunderarguments vorgelegt.
Richard Boyd schreibt:
“[. . . ] a realistic account of scientific theories is a component in the only scientifically plausible explanation for the instrumental reliability of scientific methodology.”
- Richard Boyd: On the Current Status of Scientific Realism (1991), S. 207
Für Boyd gilt also: Die (instrumentelle) Verlässlichkeit der wissenschaftlichen Methodologie ist ein erklärungsbedürftiges Phänomen P.
Dabei versteht er unter "wissenschaftliche Methodologie" alle Prinzipien, Standards, Verfahren u.ä., die zur Gewinnung und Etablierung von wissenschaftli-chen Theorien beitragen. Er nennt eine ganze Reihe von Beispiele, u.a.:
1. die Prinzipien, nach denen der Bestätigungsgrad von Theorien und die Projizierbarkeit von theoretischen Begriffen beurteilt wird.
2. die Regeln, nach denen Experimente entworfen werden bzw. unter welchen die zu realisierende Experimente ausgewählt werden.
3. Prinzipien, die bei der Auswahl von Problemen zum Tragen kommen.
4. Standards der Bewertung experimenteller Resultate.
Ein Prinzip oder ein Verfahren ist dabei genau dann "instrumentell verlässlich", wenn man durch seine Anwendung neue Theorien gewinnt und etabliert, die selbst instrumentell verlässlich sind. Das heißt wiederum, dass diese Theorien:
“approximately accurate predictions about the behavior of observable phenomena”
- Richard Boyd: Scientific Realism and Naturalistic Epistemology (1981), S. 616
Und damit letztendlich, dass diese Theorien Prognoseerfolge liefern.
Boyds Definition lautet also:
Eine wissenschaftliche Methodologie ist verlässlich, gdw. sie Prinzipien und Ähnliches beinhaltet, welche zur Gewinnung und Etablierung von wissenschaftlichen Theorien beitragen, welche wiederum annähernd korrekte Prognosen über das Verhalten beobachtbarer Phänomene liefert.
Die fraglichen Prinzipien u.ä. sind nun allesamt theorieabhängig. D.h. ihre Anwendung in einem konkreten Gegenstandsbereich involviert bereits etablierte Theorien des jeweiligen Gegenstandsbereiches selbst oder anderer Bereiche.
Das erläutert Richard Boyd an einer Reihe von Beispielen:
“We [. . . ] take seriously only those theories which relatively closely resemble our existing theories in respect of their ontological commitments and the laws they contain. We prefer theories which quantify over familiar “theoretical entities” - - or at least entities very much like familiar ones [. . . ]; we prefer theories which predicate of theoretical entities familiar properties - - or at least properties like familiar ones; we prefer new theories whose laws are - - if not consistent with those we have previously adopted - - at least compatible with the maintenance of most of our previously accepted laws as approximations [. . . ] [. . . ] our preference for “simpler” theories is, in the first instance, a preference for theories which represent relatively “simple” modifications of our existing theories [. . . ] simplicity judgements are profoundly dependent on the existing theoretical tradition [. . . ]”
- ebd., S. 617 - 618
“[. . . ] consider the question of experimental design: Suppose that T is a suitably plausible theory. Which experimental tests are sufficient to warrant our accepting it [. . . ] ? [. . . ] I propose the following: The Fundamental Rule of Experimental Design: 1. Subject T to theoretical criticism. [Ask, in the light of the best available theories, what alternatives there are to the mechanisms/processes posited or required by T. What mechanisms, known on the basis of other theories, might interfere with the operation of the mechanisms which T posits or requires? [. . . ] 2. After you have subjected T to theoretical criticism [. . . ], then test T under circumstances representative of those which theoretical criticism indicate as places where it might plausibly go wrong. That is how we do it. And that’s as theory-dependent as you can get.”
- ebd., S. 620 - 621
“Experimental Artifact. Suppose that T is theoretically plausible and thus represents a projectable pattern in observable data, and suppose that the experimental results in E appear to support (or refute) T. If these results are really to be evidentially relevant, then there must be reason to think that the results favorable (or unfavorable) to T were not the results of features of the experimental situation which are irrelevant to the assessment of T. Of course, it is impossible to control for all epistemically possible experimental artifacts [. . . ] Instead, we rely upon established theory to indicate the conditions under which the presence of experimental artifacts is to be suspected and the sorts of experimental controls which permit us to avoid or discount for their effects. [. . . ] our theory-dependent judgements in this area cut down the number of epistemically possible artifactual effects we actually control for from infinitely many to rather few”.
- Richard Boyd; Lex Orandi est Lex Credendi (1985), S. 7 - 8.
In Boyds Augen ist es also erklärungsbedürftig, dass bei der Erforschung eines Gegenstandbereichs der Einsatz von Prinzipien, Verfahren etc., die sich wesentlich auf zu diesem Zeitpunkt akzeptierte Theorien stützen, zur Gewinnung und Etablierung von neuen, bei der Prognose von beobachtbaren Phänomenen erfolgreichen Theorien führt. Wie kann dieses ExplanandumB erklärt werden?
Die einzige plausible Erklärung für die instrumentelle Verlässlichkeit der wissenschaftlichen Methodologie ist für Boyd, dass bereits die bei der Anwendung der Prinzipien und Verfahren involvierten Theorien annähernd wahr sind:
“the reliability [. . . ] of scientific methods at a given time will typically be explicable only on the assumption that the existing theoretical beliefs which form the background for its operation are (in relevant respects) approximately true. The basic idea which I have defended is that theoretical considerations are so heavily and so crucially involved in the operation of actual scientific method that the only way to explain even the instrumental reliability of that method is to portray it as reliable with respect to theoretical knowledge as well.”
- Richard Boyd: Scientific Realism and Naturalistic Epistemology (1981), S. 617f.
Boyd argumentiert nicht nur für die annähernde Wahrheit von einigen bestimmten wissenschaftlichen Theorien. Er zielt gleich auf die Gesamtheit der Theorien der reifen Naturwissenschaften ab ("unframgnetierter Realismus"):
“What we have in the scientific method is a theoretical-presupposition-dependent total-science modification procedure, a procedure or strategy for deciding which modifications or additions to make to our existing body of accepted theories. If the total science with which we begin is relevantly sufficiently true and comprehensive, then the operation of this method will tend to ensure that later total sciences are successively more accurate and more comprehensive.”
- ebd., S. 623
Nun können wir Boyds Version des Wunderargumentes wie folgt rekonstruieren:
ExplanandumB: Die Gesamtmenge M der Prinzipien, Verfahren etc. der Wissenschaften, die sich auf die zum jeweiligen Zeitpunkt akzeptierten Theorien {Tialt} stützen, liefert in verlässlicher Weise neue Theorien {Tineu}, die ihrerseits annähernd wahre Prognosen liefern. Das ist ein erklärungsbedürftiges, empirisches Phänomen PB.
ExplanansB: Die einzige plausible Erklärung für PB ist die Hypothese HB, dass die Theorien {Tialt} annähernd wahr sind.
Es ist auf den ersten Blick nicht so leicht zu erkennnen, wie PB durch HB erklärt werden soll. Das heißt, worin die explanatorische Relation zwischen dem ExplanandumB und dem ExplanansB in Richard Boyds Wunderargument besteht.
Gehen wir also Schritt-für-Schritt vor:
1. Warum liefern die neuen Theorien {Tineu} annähernd wahre Prognosen?
2. Warum verwendet Boyd (anders als zum Beispiel Hilary Putnam) nicht die annähernd wahren Prognosen der Theorien {Tineu} als Explanandum?
3. Warum liefern die Prinzipien, etc. der Wissenschaften in verlässlicher Weise neue Theorien {Tineu}, die zu annähernd wahren Prognosen führen?
Die erste Frage ist für einen Realisten einfach zu beantworten: Weil die Theorien {Tineu} wahrheitsfähig und annähernd wahr sind und sich deshalb aus ihnen deduktiv wahre Prognosen über beobachtbare Phänomene ableiten lassen.
Eine mögliche Antwort auf die zweite Frage findet sich bei Mario Alai:
„that there is no need to invoke the truth of a theory T to explain how it
predicted a novel datum d, for there is really nothing to explain: that d follows (deductively or inductively) from T is just a logical fact about T.“
- Mario Alai: Novel Predictions and the No Miracle Argument (2014), S. 299
Eine Antwort auf die dritte Frage ist nicht einfach zu finden, aber unerlässlich, um Boyds Wunderargument zu verstehen. Wir kommen ihr vielleicht über das in ihr vorkommende Adjektiv "verlässlich" näher, um das herum sich eine ganze erkenntnistheoretische Schule namens "Reliabilismus" gebaut hat.
Der Reliabilismus spricht von epistemischen Verfahren. Wenn die Gesamtmenge M der Prinzipien in den Wissenschaften zur Gewinnung und Etablierung
neuer Theorien beiträgt, kann das als ein epistemisches Verfahren aufgefasst werden. Boyd spricht auch von "total-science modification procedure" (kurz: TMP). Der Input des epistemischen
Verfahrens TMP sind dann die Theorien {Tialt}, die Prinzipien in M und sein
Output sind die Theorien {Tineu}.
Die Frage 3 lässt sich dann verstehen als die Frage, warum TMP ein verlässliches epistemisches Verfahren ist. Dabei ist ein epistemisches Verfahren lapidar gesprochen verlässlich, genau dann wenn es (unter bestimmten Bedingungen) mit hoher Wahrscheinlichkeit wahren Output liefert. Also lautet die Frage 3 schlussendlich: Warum liefert TMP mit hoher Wahrscheinlichkeit neue Theorien {Tineu} mit annähernd wahren Prognosen?
Boyd meint, dass diese Frage nur durch die Wahrheit der Theorien {Tialt} erklärt werden kann. Dabei soll diese Erklärung eine kausale Erklärung sein:
“[. . . ] the realist’s explanation has the form of an ordinary causal explanation in science subject to confirmation or disconfirmation by ordinary scientific standards.”
Das Konzept einer kausale Erklärung erläutert er an anderer Stelle wie folgt:
“At least for many central cases [. . . ] an explanation of an event is an account of how it was caused [. . . ] To explain a law or a regularity is to give an account [. . . ] of the causal factors, mechanisms, processes, and the like that bring about the regularity or the phenomena described in the law.”
Das ExplanansB, dass die Theorien {Tialt} annähernd wahr sind, nennt einige kausale Faktoren. Wenn beispielsweise eine Theorie T1alt über Elektronen annähernd wahr ist, dann heißt dass, dass es Elektronen gibt, die näherungsweise die ihnen von T1alt zugeschriebene kausale Rolle spielen. Solche kausale Faktoren sollen zumindest eine kausale (explanatorische) Rolle in einer kausalen (explanatorischen) Geschichte spielen, die bewirkt, dass TMP verlässlich ist. Die explanatorische Relation zwischen dem ExplanandumB und dem ExplanansB ist also die, dass das ExplanansB zumindest einige von mehreren kausalen Faktoren nennt, die das ExplanandumB verursachen.
Es ist klar, dass die kausale Geschichte, die vom ExplanandumB und anderen kausalen Faktoren zum ExplanansB führt, wenn überhaupt nur lückenhaft erzählt werden kann. Deshalb kann auch die PB durch HB nur angedeutet werden.
Das ist für Richard Boyd aber kein Mangel, denn:
“In all but the most atypical cases [of a causal explanation] the account will be partial: Not all the causally determining factors will be indicated, nor will the relevant mechanisms be fully specified.”
Frank Tschepke: Wissenschaftlicher Realismus (2003)
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