„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Nancy Cartwright: Wie die Gesetze der Physik lügen

Der Faktizismus besagt, dass die fundamentalen Gesetze in der Physik beschreiben, wie Systeme sich faktisch verhalten oder sogar verhalten müssen.

Nancy Cartwright meint, dass diese Sicht nur in absoluten Ausnahmesituationen zutrifft und im Regelfall falsch ist. Ihre Meinung begründet sie u.a. am Beispiel des newtonschen Gravitationsgesetzes, das sich formal so darstellen lässt:

Dieses Gesetz besagt in den Worten von Richard Feynman:

„The law of gravitation is that two bodies exert a force between each other which varies inversely as the square of the distance between them, and varies directly as the product of their masses.“
- zitiert nach: Nancy Cartwright: How the Laws of Physics Lie (1983), S. 14

Beschreibt das Gravitationsgesetz nun das Verhalten von realen Systemen? Nein, denn die Elektrizität übt eine ähnliche Anziehungskraft zwischen zwei Körpern aus wie die Gravitation. Das zugehörige Gesetz ist das Coulombsche Gesetz:

Die meisten realen Körper sind sowohl massereich als auch elektrisch geladen. Deswegen ist die Anziehungskraft innerhalb der meisten realen zwei-Körper Systeme auch ungleich der Gravitationskraft und ungleich der Coulomb-Kraft zwischen den beiden Körpern. Die obenstehenden Gesetzesaussagen, welche die Anziehungskraft zwischen Körpern beschreiben wollen, sind daher auch nicht annähernd wahr beziehungsweise "die Gesetze der Physik lügen".

Es gibt eine naheliegende Erwiderung auf diese Behauptung von Cartwright: Die obenstehenden Gesetzesaussagen drücken sogenannte "Ceteris paribus-Gesetze" aus. Das heißt, sie gelten nicht unter allen, sondern nur unter idealen Bedingungen. Die Gesetzesaussagen müssen dementsprechend um eine Ceteris-Paribus-Klausel ergänzt werden. Das Gravitationsgesetz würde dann zum Beispiel lauten: "Wenn keine anderen Kräfte auf zwei massereiche Körper einwirken, dann ist die Anziehungskraft F zwischen diesen beiden Körpern gleich (G*m*M)/r²."

Diese Gesetzesaussage ist wahr[1], aber nur von sehr geringem Nutzen. Denn wie wir wissen, sind die meisten Körper nicht nur massereich, sondern u.a. auch elektrisch geladen. Daraus folgt, dass sie die Antezedenzbedingung in der obenstehenden Ceteris-Paribus Gesetzesaussage nicht erfüllen. Und daraus folgt wiederum, dass ihr Verhalten durch diese Aussage nicht beschrieben wird.[2]

Dieses Ergebnis gilt allgemein:

Kritik am Faktizismus: Gegeben ist eine Aussage Ф über ein fundamentales Gesetz. Dann stellt sich der folgende Trade-off: Umso weiter man den Gültigkeitsbereich von Ф fasst, desto empirisch inadäquater und in Folge "gelogener" ist Ф. Und desto enger man den Gültigkeitsbereich von Ф fasst, desto weniger beschreibt Ф von der Welt, in der wir leben. Der Trade-off besteht also zwischen Wahrheitsnähe und Extensionsumfang. Der Faktizismus ist auf jeden Fall falsch, da er behauptet, dass die fundamentalen Gesetze sowohl allgemein beschreibend als auch wahr sind.

Wenn Cartwright mit ihrer Kritik am Faktizismus soweit richtig liegt, dann sind Schlüsse auf die beste Erklärung zumindest dann nicht verlässlich, wenn die Explanansaussage eine Gesetzesaussage beinhaltet und ihre explanatorische Güte an ihrer Vereinheitlichungsleistung bemessen wird. Denn dann wird eine solche Explanansaussage gerade dann viel erklären können, wenn sie unwahr ist!

1. Diskussion

Cartwright diskutiert an mehreren Stellen zwei Einwände gegen ihre Kritik:

Einwand 1: Es stimmt, dass die meisten realen (das heißt in der Regel: komplexen) Systeme nicht durch einzelne Gesetzesaussagen beschrieben und erklärt werden können. Aber sie können durch eine Kombination von Gesetzesaussagen beschrieben und erklärt werden, welche wiederum einer Kombination der durch die Aussagen beschriebenen Kräfte entspricht.[3]

Einwand 2: Es stimmt zwar, dass die meisten realen (komplexen) Systeme nicht durch klassische Gesetzesaussagen beschrieben und erklärt werden können. Aber sie können durch wahre Aussagen über "Super-Gesetze" beschrieben und erklärt werden, die sich aus der Summe aus allen grundlegenden Kräften ergeben, die in diesem System auftreten können.

a. Einwand 1

Gegen Einwand 1 wendet Cartwright ein, dass wir zwar geometrisch und mathematisch Kräfte addieren können, die Natur selbst aber addiere keine Kräfte. Angenommen auf einen starren Körper K wirkt eine Kraft F1 gen Norden und eine Kraft F2 gen Osten. Wenn wir den Betrag der Kräfte kennen, können wir mit einem Kräfteparallelogramm die auf K einwirkende Gesamtkraft FR bestimmen:

Der Faktizist ist zu der Annahme verpflichtet, dass die Gesetzesaussagen für die Kräfte F1 und Fdas reale Verhalten von K beschreiben. Das heißt letztendlich, dass K sich sowohl nach Norden als auch nach Osten bewegt. Für Cartwright ist das eine zweifelhafte Annahme. Offensichtlich falsch ist die Annahme, wenn  Fgen Westen und F1 gleich stark gen Osten wirkt und Körper K in Ruhe bleibt. Denn Ruhe beinhaltet weder eine Bewegung nach Westen noch nach Osten.

b. Einwand 2

Gegen Einwand 2 wendet Cartwright selbst wiederum ein: Erstens, Aussagen über "Super-Gesetze" sind oft nicht verfügbar. Und mit nicht verfügbaren Aussagen können wir auch nichts beschreiben oder erklären.[4] Zweitens, selbst wenn uns solche Aussagen über "Super-Gesetze" zur Verfügung stünden, würden sie oftmals nicht viel erklären und auch nicht unser Verständnis fördern. Denn die Erklärungen von Systemen sind oftmals reduktiv, d.h. sie bestehen in der Rückführung des komplexen Verhaltens auf die einzelnen Komponentenkräfte. Zumindest in diesem Sinne würden "Super-Gesetze" nicht viel erklären.

2. Cartwright über Kapazitäten

Die Faktizitätssicht auf fundamentale Gesetze ist nach Cartwright also zum Scheitern verurteilt. Fundamentale Gesetzesaussagen sind wahr, wenn sie nicht viel beschreiben, und sie können nur dann viel beschreiben, wenn sie lügen.

Cartwright schlägt deshalb vor, Kraftgesetze wie das Gravitationsgesetz nicht als Beschreibung von tatsächlichen Ereignissen, sondern als Beschreibung von Kapazitäten ("causal powers") aufzufassen. Demnach beschreiben  Gesetzesaussagen, was Dinge tun können, nicht, was sie tatsächlich tun.

Eine Kapazität erfordert die Unterscheidung von vier Zuständen:[5][6]
K1. Das Vorliegen (obtain) der Kapazität
K2. Das Auslösen (trigger) der Kapazität (nicht in allen Fällen erforderlich)
K3. Das Ausüben (exercise) der Kapazität
K4. Das erscheinende Resultat (manifest/occurrent result).

Beispiel: Die Gravitation kann in diesem Sinne als Kapazität analysiert werden. Die Eigenschaft Masse hat die Kapazität, andere massive Objekte anzuziehen. Jeder massereiche Körper besitzt diese Kapazität aufgrund seiner Masse (K1) Wenn ein anderer massiver Körper anwesend ist, erfährt jener eine Gravitations-kraft, die das Ausüben der Kapazität ist (K3). Dies geschieht immer und unter allen Umständen, in diesem Fall ist also kein Auslöser (K2) notwendig. Die Bewegung des angezogenen Körpers stellt dann das erscheinende Resultat dar (K4). Nicht immer wird der angezogene Körper sich auf den anziehenden hin bewegen; welche Bewegung tatsächlich resultiert, hängt von den Umständen, also welche weiteren Kräfte wirken, ab. Auf dieser letzteren Tatsache basiert Cartwrights Kritik am Faktizismus, Humeanismus und Argument für Kapazitäten.

Wenn zwei Körper also nur massereich und nicht elektrisch geladen sind, dann geschieht das, was das Gravitationsgesetz sagt. Wenn aber mehrere Kräfte auf die Körper einwirken, also verschiedene Kapazitäten ausgeübt werden, dann kombinieren sich diese zu einer Wirkung. Die gemeinsame Wirkung wird im Allgemeinen nicht die Wirkung sein, welche das Gravitationsgesetz beschreibt. Das ist aber kein Problem, wenn man wie Cartwright annimmt, dass das Gravitationsgesetz nicht Tatsachen, sondern Kapazitäten beschreibt, weil das Gesetz dann gar nicht sagt, was tatsächlich passiert, sondern nur, welche Kapazität herrscht: Kapazitätsgesetze beschreiben die Ausübung der Kapazität (K3) und nicht das erscheinende Resultat (K4). Welches Resultat eine vorliegende Kapazität ergibt, ist abhängig von den Umständen, u.U. von anderen Kapazitäten.

Zusammenfassend möchte Cartwright die obengenannten Probleme dadurch lösen, dass sie Aussagen über Kraftgesetze als Aussagen über Kapazitätsgesetze versteht. Dann sind die bezeichnenden Kraftgesetze auch wenn weitere Kräfte wirken und auch ohne CP-Bedingung beschreibend und erklärend.

Einzelnachweise

[1] Das gilt zumindest für Alltagsgegenstände und annähernd.

[2] Nancy Cartwright: How the Laws of Physics Lie (1983), S. 54

[3] Carl Hoefer: For Fundamentalism. (2008). In: Nancy Cartwright’s Philosophy of Science. Hg. v. Stephan Hartmann, Carl Hoefer u. Luc Bovens, S. 307–321.

[4] Nancy Cartwright: How the Laws of Physics Lie (1983), S. 49ff.

[5] Nancy Cartwright: Causal Laws, Policy Predictions, and the Need for Genuine Powers.(2009). In: Dispositions and Causes. Hg. v. Toby Handfield, S. 127–157.

[6] Paul Näger: Was ist ein Naturgesetz? Nancy Cartwright. (2020). In:  Analytische Philosophie. Eine Einführung in 16 Fragen und Antworten. Hg. v. Johannes Müller-Salo, S. 57 - 76

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Kommentare: 1
  • #1

    P. Findeisen (Donnerstag, 14 November 2024 23:49)

    Leider ist Cartwrights Kritik am gängigen Verständnis der Naturgesetze dem philosophischen Publikum kaum bekannt. So ist es ein populärphilosophischer Glaube, dass es auf der Basis der Naturgesetze exakt beschreibbar sein müsse, wie die "Weltzustände" auseinander hervorgehen - einer nach dem anderen in festgelegter Folge. Damit sei doch die Gültigkeit des metaphysischen Determinismus bewiesen!


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