Das Wunderargument (engl.: No-Miracle Argument, kurz: NMA) ist ein Argument für den wissenschaftlichen Realismus.
Die Grundidee bei einem NMA lässt sich ganz gut so zusammenfassen:
In den Prämissen eines No-Miracles Arguments wird irgendwo auf bestimmte Eigenschaften oder Leistungen von einer wissenschaftlichen Theorie oder mehreren wissenschaftlichen Theorien Bezug genommen, die in einer ersten Annäherung als "empirischer Erfolg" bezeichnet werden können. Dabei kann eine Theorie bspw. dann als empirisch erfolgreich gelten, wenn sie erfolgreich ein Phänomen prognostiziert, der während der Konstruktion der Theorie nicht bekannt oder nicht gebraucht wurden war.
In der Konklusion eines No-Miracle Arguments wird dann auf die Wahrheit des wissenschaftlichen Realismus in Bezug auf diese empirisch erfolgreiche Theorie oder empirisch erfolgreichen Theorien geschlossen. Dabei besagt der "klassische" Theorienrealismus grob, dass reife wissenschaftliche Theorien in einem wörtlichen Sinne wahr sind und demnach die von ihnen beschriebenen Zusammenhänge und postulierten theoretischen Entitäten wie z.B. Elektronen in einer geistesunabhängigen Weise existieren.
Ein NMA besteht, im Kern, also in einer Inferenz von Erfolg auf Wahrheit.
Wenn man nun eine konkrete Version des NMA entwickeln möchte, kann man sich aufbauend auf dieser Grundidee an diese drei Schritte halten:
1. Die Schlussform bestimmten, mit der im NMA von Erfolg auf Wahrheit geschlossen wird (z.B. abduktiver Schluss, Wahrscheinlichkeitsschluss).
2. Die Begriffe "wissenschaftlicher Erfolg" und "wissenschaftlicher Realismus" näher explizieren (z.B. neuartige Prognoseerfolge, Strukturenrealismus).
Hier ist ein Beispiel:
Die Allgemeine Relativitätstheorie besagt, dass massereiche Körper die Raumzeit krümmen. Die geodätische Linie, das heißt die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten, ist in einem solchen gekrümmten Raum keine Gerade, sondern eine Kurve. Und Lichtstrahlen breiten sich immer entlang von geodätischen Linien aus. Aus der Allgemeinen Relativitätstheorie und diesen beiden Zusatzannahmen konnte im 20. Jahrhundert nun eine Prognose über ein bestimmtes Phänomen deduktiv abgeleitet werden: Die Bahn eines Lichtstrahls nahe eines massereichen Körpers nimmt die Form einer Kurve ein.
Wie lässt sich diese Prognose empirisch überprüfen? Die Sonne ist massereich und erdnah genug, um eine von hier aus messbare Lichtablenkung bewirken zu können. Sofern die Prognose also wahr ist, müssten die Lichtstrahlen von fernen Sternen spürbar gekrümmt sein, wenn sie die Sonne in hinreichender Nähe passieren. Das Problem ist aber, dass das Sonnenlicht in der Regel zu stark ist, um die Beobachtung sonnennaher Sternenstrahlen zu erlauben. Der im Rahmen der Allgemeinen Relativitätstheorie prognostizierte Ablenkungseffekt lässt sich mit optischen Teleskopen also nur dann beobachten, wenn die Sonne im Zuge einer totalen Sonnenfinsternis zeitweise vom Mond verdeckt ist. Am 29. Mai 1919 gab es eine solche totale Sonnenfinsternis. Zwei Forscherteams um den Astrophysiker Arthur S. Eddington maßen an diesem Tag das Sternenlicht vom Hyaden-Sternenhaufen, das sich entlang der Sonne ausbreitete. Im Ergebnis stellten sie eine Differenz zwischen der beobachteten und der tatsächlichen Position der Sterne im Hyadenhaufen fest, die sie auf eine Ablenkung der Sternenstrahlen durch die Sonne zurückführten. Die Prognose war erfolgreich.
Ein lokales No-Miracle Argument besagt nun, dass die Allgemeine Relativität-stheorie prognostirsch erfolgreich ist, weil sie wortwörtlich wahr ist. Das heißt: Die ART konnte den Lichtablenkungseffekt korrekt vorhersagen, weil massereiche Körper die Raumzeit krümmen und in Folge die Bahn von Lichtstrahlen ablenken.
Das ist nicht der einzige empirische Erfolg der Allgemeinen Relativitätstheorie. So postuliert diese etwa auch eine gravitative Zeitdilation, die sich messen lässt und beispielsweise in Global Positioning Systemen (GPS) zu Anwendungserfolgen führt. Die Quantentheorie, die andere große physikalische Theorie des 20. Jhr., gilt hinsichtlich ihres empirischen Erfolgs sogar als die am besten bestätigte wissenschaftliche Theorie überhaupt. Ihre Prognosen sind mit einer nie dagewesenen Präzision erfolgreich. Und dies führt wiederum zu Anwendungserfolgen etwa mit Halbleitern, die zur Erfindung der Diode und des Transistors führten und ohne welche die moderne Elektronik nicht möglich wäre.
Ein globales No-Miracle Argument besagt, dass alle wissenschaftlichen Theorien mit einer bestimmten Erfolgseigenschaft F wortwörtlich wahr sind.
“[. . . ] the positive argument for realism is that it is the only philosophy that doesn’t make the success of science a miracle. That terms in mature theories typically refer [. . . ] that the theories accepted in a mature science are typically approximately true, that the same term can refer to the same thing even when it occurs in different theories — these statements are viewed by the scientific realist not as necessary truths but as part of the only scientific explanation of the success of science.”
- Hilary Putnam: What is mathematical truth? In: Hilary Putnam: Mathematics, Matter and Method (1975), S. 73
„The modern positivist has to leave it without explanation (the realist charges) that "electron calculi" and "space-time calculi" and "DNA calculi" correctly predict observable phenomena if, in reality, there are no electrons, no curved space-time, and no DNA molecules. If there are such things, then a natural explanation of the success of these theories is that they are partially true accounts of how they behave. […] But if these objects don't really exist at all, then it is a miracle that a theory which speaks of gravitational action at a distance successfully predicts phenomena; it is a miracle that a theory which speaks of curved space-time successfully predicts phenomena; and the fact that the laws of the former theory are derivable "in the limit" from the laws of the latter theory has no explained methodological significance.“
- Hilary Putnam: Meaning and the Moral Sciences (1978), S. 18 – 19
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