„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Unverfügbarkeit (Zitat)

„Erinnern Sie sich noch an den ersten Schneefall in einem Spätherbst oder Winter Ihrer Kindheit? Es war wie der Einbruch einer anderen Realität. Etwas Scheues, Seltenes, das uns besuchen kommt, das sich herabsenkt und die Welt um uns herum verwandelt, ohne unser Zutun, als unerwartetes Geschenk. Der Schneefall ist geradezu die Reinform einer Manifestation des Unverfügbaren: Wir können ihn nicht herstellen, nicht erzwingen, nicht einmal sicher vorherplanen, jedenfalls nicht über einen längeren Zeitraum hinweg. Und mehr noch: Wir können des Schnees nicht habhaft werden, ihn uns nicht aneignen: Wenn wir ihn in die Hand nehmen, zerrinnt er uns zwischen den Fingern, wenn wir ihn ins Haus holen, fließt er davon, und wenn wir ihn in die Tiefkühltruhe packen, hört er auf, Schnee zu sein. Vielleicht sehnen sich eben deshalb so viele Menschen – nicht nur die Kinder – nach ihm, vor allem an Weihnachten. Viele Wochen im Voraus werden die Meteorologen bestürmt und bekniet: Wird es dieses Jahr weiß? Wie stehen die Chancen? Und natürlich fehlt es nicht an Versuchen, Schnee verfügbar zu machen: Wintersportorte werben mit Schneegarantie und präsentieren sich als »schneesicher«; sie helfen mit Schneekanonen nach und entwickeln Kunstschnee, der auch bei 15 Grad plus noch durchhält.

In unserem Verhältnis zum Schnee spiegelt sich das Drama des modernen Weltverhältnisses wie in einer Kristallkugel: Das kulturelle Antriebsmoment jener Lebensform, die wir modern nennen, ist die Vorstellung, der Wunsch und das Begehren, Welt verfügbar zu machen. Lebendigkeit, Berührung und wirkliche Erfahrung aber entstehen aus der Begegnung mit dem Unverfügbaren. Eine Welt, die vollständig gewusst, geplant und beherrscht wäre, wäre eine tote Welt. Das ist keine metaphysische Einsicht, sondern eine Alltagserfahrung: Das Leben vollzieht sich als Wechselspiel zwischen dem, was uns verfügbar ist, und dem, was uns unverfügbar bleibt, uns aber dennoch »etwas angeht«; es ereignet sich gleichsam an der Grenzlinie. Nehmen wir ein Massenphänomen wie den Fußball. Warum gehen die Menschen ins Stadion? »Weil sie nicht wissen, wie es ausgeht«, soll der Bundestrainer von 1954, Sepp Herberger, in einem viel zitierten Bonmot einst gesagt haben. Entgegen der stetig geäußerten Klage, im Fußball gehe es »nur noch ums Geld«, macht es die Attraktivität des Spiels aus, dass sich Siege und Niederlagen eben doch nicht erzwingen und erkaufen, eben doch nicht verfügbar machen lassen. Fußball bleibt für viele Menschen so spannend, dass er die ganze Woche lang den zentralen Fokus ihres libidinösen Sehnens bis zu den nächsten Ligaspielen bildet, weil konstitutive Unverfügbarkeit seinen Charakter ausmacht. Allerdings nicht schlechthinnige Unverfügbarkeit: Natürlich kann man mit Geld, aber auch mit Training Einfluss nehmen auf das Spielgeschehen, und das weiß auch jeder Amateursportler, nicht nur im Fußball, sondern auch im Tennis, im Basketball, bei allen Spielsportarten: Ja, man kann, z. B. auf dem Tennisplatz, seine Chancen erhöhen durch gute Vorbereitung, durch Mentaltraining, durch Entspannung, aber man kann den Sieg, den nächsten Punkt niemals erzwingen. Mehr als das, durch Steigerung der Anstrengung alleine lässt sich gar nichts erreichen: Je mehr man das Tor oder den nächsten Punkt verfügbar machen, das heißt erzwingen will, umso weniger gelingt es. Deshalb vollführen viele Hobbysportler allerhand obskur anmutende Riten, etwa vor dem Aufschlag, die magischen Praktiken ähneln, um das Unverfügbare verfügbar zu machen; und es sind der Kampf und die Spannung an dieser Grenzlinie, welche die Faszination des Sports aufrechterhalten.1

Das Wechselspiel von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit ist aber nicht nur für viele Sportarten konstitutiv, sondern für Spiele überhaupt: Für das Kartenspiel wie für das Schachspiel, das Brettspiel oder das Glücksspiel. Das Verhältnis zwischen Verfügbarem und Unverfügbarem ist dabei sehr variabel: Im Schach lassen sich Sieger und Verlierer recht sicher vorhersagen, beim Mensch-ärgere-Dich-nicht oder im Glücksspiel eher nicht. Doch nicht nur beim Spielen verhält es sich so. Die Begegnung mit dem Unverfügbaren und der Wunsch oder der Kampf, es verfügbar zu machen, durchziehen alle Lebensbereiche wie ein roter Faden. Nehmen wir das Einschlafen: Je mehr wir es wollen, umso weniger lässt es sich erzwingen. Dennoch können wir etwas tun – zum Beispiel spazieren gehen oder regelmäßige Vorbereitungsroutinen entwickeln –, um sein Eintreten zu erleichtern. Oder die Liebe. Hold the line, love isn’t always on time, singt die Band Toto treffend. Oder die Gesundheit: Ja, wir können versuchen, unser Erkältungsrisiko zu senken, uns gesund zu ernähren, aber ob wir uns erkälten, ob wir Krebs bekommen oder einen Bandscheibenvorfall – das gehört zu den Unverfügbarkeiten – oder sollen wir sagen: Teilverfügbarkeiten? – des Lebens. Vom Spiel zur Liebe und vom Schnee zum Tod: Unverfügbarkeit konstituiert menschliches Leben und menschliche Grunderfahrung, und fragt man nach der Weltbeziehung der Moderne, das heißt nach der Art und Weise, wie die Institutionen und kulturellen Praktiken der Gegenwartsgesellschaft auf Welt Bezug nehmen und wie wir infolgedessen als moderne Subjekte in die Welt gestellt sind, dann scheint die Art und Weise, wie wir individuell, kulturell, institutionell und strukturell zum Unverfügbaren in Beziehung treten, einen kardinalen Analysefokus zu bilden. Ich will auf den folgenden Seiten versuchen, diesen Fokus konsequent auf die Alltagspraktiken und die sozialen Konflikte der spätmodernen Gegenwartsgesellschaften anzuwenden, um zu prüfen, was man aus dieser Perspektive erkennen kann. Meine Ausgangshypothese dabei lautet: Indem wir Spätmodernen auf allen genannten Ebenen – individuell, kulturell, institutionell und strukturell – auf die Verfügbarmachung von Welt zielen, begegnet uns die Welt stets als »Aggressionspunkt« oder als Serie von Aggressionspunkten, das heißt von Objekten, die es zu wissen, zu erreichen, zu erobern, zu beherrschen oder zu nutzen gilt, und genau dadurch scheint sich uns das »Leben«, das, was die Erfahrung von Lebendigkeit und von Begegnung ausmacht – das, was Resonanz ermöglicht –, zu entziehen, was wiederum zu Angst, Frust, Wut, ja Verzweiflung führt, die sich dann unter anderem in ohnmächtigem politischem Aggressionsverhalten niederschlagen.“

- Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit (2020), Einleitung.

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