In den Vorworten von Sachbüchern lesen wir oft Dinge wie:
„[...] Alle verbleibenden Fehler fallen in meinen Verantwortungsbereich. [...].“
„Autor und Verlag haben alles daran gesetzt, um Ihnen korrekte Informationen und Codebeispiele zu präsentieren. Dennoch kann es sein, dass sich Fehler eingeschlichen haben. Falls Ihnen Fehler auffallen, [...] wenden Sie sich bitte an den Verlag [...].“
Das ist prima facie seltsam. Denn von einem Sachbuchautor darf man erwarten, dass er von jeder einzelnen in seinem Buch aufgestellten Aussage A1, A2, ... An überzeugt ist. Die Autoren scheinen aber jeweils nicht von der Konjunktion dieser Aussagen (A1 ∧ A2 ∧ ... ∧ An) überzeugt zu sein. Die Einstellung der Autoren erscheint insofern nicht vernünftig. Hierin zeigt sich das Vorwort-Paradoxon.
Dieses Paradox lässt sich auflösen, indem man annimmt, dass Menschen nicht einfach entweder von der Wahrheit einer Aussage überzeugt sind oder nicht. Vielmehr soll der Zustand des Überzeugt-Seins eine graduelle Angelegenheit sein.
D.h man kann das Paradox auflösen, indem man Überzeugungen als individuelle Glaubensgrade im Sinne subjektiver Wahrscheinlichkeiten ansieht:
0 ≤ CS(p) ≤ 1.
Ein naheliegendes Rationalitätskriterium sagt nun aus, dass diese Glaubensgrade den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung genügen müssen.
Dann gilt aber:
CS(A1 ∧ A2) = CS (A1) * CS(A2/A1),
und das heißt:
CS(A1 ∧ A2) ≤ CS(A1).
Ein Beispielmodell:
Seien die Behauptungen:
A1, A2, ... A1000.
alle probabilistisch unabhängig voneinander und gelte:
CS(A1) = CS(A2) = ... CS(A1000) = 0,99.
Für probabilistisch unabhängige Propositionen gilt:
CS (A1 ∧ A2) = CS(A1) * CS(A2).
und daher:
CS(A1 ∧ A2 ∧ ... ∧ A1000) = 0,991000 ≈ 0.00004317.
Das illustriert die bayesianistische Lösungsstrategie: Angenommen ein Sachbuchautor stellt 1.000 Aussagen in seinem neuen Buch auf. Er ist sich bei jeder einzelnen Aussage mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit von 99% sicher, dass diese Aussage wahr ist. Die obere Formel zeigt aber, dass er gemäß den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitstheorie nur zu 0,004317% überzeugt ist, dass alle in seinem Buch getätigten Aussagen wahr sind. Das erklärt, weshalb Sachbuchautoren einerseits sehr stark von jeder Aussage, - andererseits aber nicht von der Wahrheit der Konjunktion all dieser Aussagen überzeugt sind.
Betrachten wir nun kurz den Bayesianismus im Allgemeinen. Glaubensgrade als exakte Zahlenwerte lassen sich über Wettbereitschaft operationalisieren.
Hier ist ein
Beispiel:
Peter glaubt mit einer Wahrscheinlichkeit von 50%, dass Annalena Baerbock die nächste Bundestagswahl gewinnt. Hans hält dagegen und wettet 10€, dass Annalena Baerbock die nächste
Bundestagswahl nicht gewinnt. Dann ist Peter bereit, bis zu 10€ gegen die von Hans gesetzten 10€ zu setzen.
Allgemeiner und genauer:
Wettquote: Einsatz / Ausschüttung
Das heißt: Die Wettquote ist das Verhältnis von Wettquote und Ausschüttung.
Die Ausschüttung ist dabei der insgesamt an den Gewinner der Wette ausgeschüttete Betrag (Nutzen).
Der Einsatz ist der zu bezahlende Betrag (Nutzen), mit dem die Teilnahme an der Wette erkauft wird.
Der Glaubensgrad einer Person im Hinblick auf eine Proposition ist messbar durch die Wettquote, bei der die Person gegenüber Wetten auf diese Proposition indifferent wird.
Dann lässt sich beweisen, dass es im folgenden Sinn irrational ist, Glaubensgrade zu haben, die nicht den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung entsprechen: Gegen jede Person, die solche Glaubensgrade hat, kann man eine Kombination von Wetten abschließen, so dass sie insgesamt auf jeden Fall verliert.
Das ist der Inhalt des berühmten Dutch Book-Theorems.
Zur Erläuterung hier noch ein Beispiel:
- Lisas Glaubensgrad, dass Italien die nächste WM gewinnt, ist 0,1.
- Dann nimmt sie Wetten darauf mit einer Wettquote unter 1:10 gerne an.
- Wetten mit einer Wettquote über 1:10 lehnt sie ab.
- Gegenüber Wetten mit einer Wettquote von exakt 1:10 ist sie indifferent.
("Unter" und "über" jeweils verstanden im Hinblick auf die Wettquote als Bruch, d.h. als reelle Zahl. Z.B. liegt 1:20 unter 1:10.).
Es gibt Schwierigkeiten mit der gradualistischen Theorie von Überzeugungen:
(1) Ist es plausibel, dass jede Person immer sagen kann, an welchem Punkt sie einer Wette gegenüber indifferent wird? Was würden Sie z.B. genau darauf wetten, dass die Allgemeine Relativitätstheorie wahr ist?
(2) In manchen Kontexten scheint doch eine Übersetzung in die nicht-gradualistische Redeweise von Überzeugungen erforderlich zu sein - z.B. bei der Analyse des Wissensbegriffs. Wie sind aber der gradualistische und der nicht-gradualistische Begriff zueinander in Beziehung zu setzen?
Lösungsidee: Mit Hilfe eines Schwellenwerts r:
[S ist (im nicht-graduellen Sinn) überzeugt, dass p] ↔ [CS(p) ≥ r].
Kleines Problem: Wie r auf nicht-willkürliche Weise festlegen?
Großes Problem: das Lotterieparadox.
Angenommen: Es gibt eine Lotterie mit 1.000 Losen; dass die Lotterie stattfinden und genau ein Los gewinnen wird, soll als gewiss gelten.
"Gn" seht für die Proposition, dass das Los mit der Nummer n gewinnen wird.
Dann sind vor der Ziehung offenbar folgende Glaubensgrade vernünftig:
(a) CS(¬G1) = CS(¬G2) = .... CS(¬G1000) = 0,99.
(b) CS(G1 ∨ G2 ∨ ... ∨ G1000) = 1.
Liegt der Schwellenwert r zum Beispiel bei 0,97, dann scheint uns die Schwellenwert-Konzeption zu folgendem Annahmen zu verpflichten:
(1) Es ist vernünftig, von jedem einzelnen Los zu glauben, dass es nicht gewinnen wird. (Schon etwas seltsam).
(2)
Es ist gleichzeitig vernünftig, zu glauben, dass eines der Lose gewinnen wird
- d.h. es ist vernünftig, eine inkonsistente Menge von Überzeugungen zu haben, nämlich: {G1
∨
G2∨
...
∨
G1000; ¬G1,
¬G2,
... ,
¬G1000}.
(sehr seltsam).
Diese zweite Annahme offenbart das Lotterie-Paradoxon.
Allgemein scheint zu gelten: In der Erkenntnistheorie ist es in einigen Kontexten nützlich, eine gradualistische Konzeption von
Überzeugungen (etwa bei der Auflösung des Vorwort-Paradoxons) zu verfolgen und in anderen Kontexten ist es nützlich, eine nicht-gradualistische Konzeption von Überzeugungen zu verfolgen (etwa bei
der Analyse des Wissensbegriffs). Es ist eine offene Frage, wie die gradualistische und die nicht-gradualistische Konzeption von Überzeugungen zu vereinbaren und wie das Lotterieparadoxon zu lösen
ist.
Basisraten-Fehlschluss
Bayesianismus
Lotterie-Paradoxon
Montey-Hall-Problem
Kommentar schreiben