Angesichts des Todes,
S. 94 – 96:
„Dieser Mensch wurde einmal mit anderen zusammen auf das Schafott geführt, und man las ihm seine Verurteilung zum Tode durch Erschießen wegen eines politischen Verbrechens vor. Zwanzig Minuten
darauf wurde ihm seine Begnadigung vorgelesen und ein anderer Grad der Bestrafung festgesetzt; aber die zwanzig Minuten oder wenigstens die viertel Stunde zwischen den beiden Urteilen hatte er in
der zweifellosen Überzeugung verlebt, dass er nach wenigen Minuten plötzlich sterben werde. […] Nicht weit davon stand eine Kirche, und das vergoldete Dach ihrer Kuppel glänzte im hellen
Sonnenschein. Er erinnerte sich, dass er unverwandt nach diesem Dach und den davon ausgehenden Strahlen hingeblickt habe; er habe sich von diesen Strahlen gar nicht losreisen können; er habe die
Vorstellung gehabt, als gehörten diese Strahlen zu seiner neuen Natur und als werde er in drei Minuten irgendwie mit ihnen zusammenfließen … Die Ungewissheit und der Widerwille gegen dieses Neue,
das geschehen und sogleich herankommen werde, seien furchtbar gewesen; aber er sagte, nichts habe ihm während dieser Zeit größeren Pein bereitet als der unaufhörliche Gedanke: "Wie aber, wenn ich
nun nicht zu sterben brauchte? Wenn ich weiterleben könnte? Welche unendliche Perspektive! Und das alles würde dann mein sein! Ich würde dann jede Minute in eine ganze Ewigkeit verwandeln; nichts
von meiner Zeit würde ich verlieren, jede Minute berechnen, jede Minute berechnen, keinen Augenblick nutzlos verschwenden!" Er sagte, dieser Gedanke habe sich bei ihm schließlich in einem solchen
Ingrimm umgewandelt, dass er sogar gewünscht habe, nur möglichst bald erschossen zu werden.“
Liebe, Glück und Kinder,
S. 105:
„>Ich bin nicht verliebt gewesen<, antwortete der Fürst ebenso leise und ernst wie vorher, >ich … ich war auf andere Weise glücklich.<
[…]
>Dort … dort gab es viele Kinder, und ich bin die ganze Zeit über mit Kindern zusammen gewesen, nur mit Kindern. Es waren die Kinder jenes Dorfes, eine ganze Schar, die die Schule besuchte.
Unterrichtet habe ich sie nicht, o nein, dazu war ein Schullehrer dort, Jules Thibaut; ich habe sie wohl auch dies und das gelehrt, größtenteils aber war ich ohne solche Absicht mit ihnen
zusammen, und die ganzen vier Jahre habe ich in dieser Weise verlebt. Weiter hatte ich keine Wünsche. Ich sagte ihnen alles, ohne ihnen etwas zu verheimlichen. Ihre Eltern und Verwandten waren
alle auf mich ärgerlich, weil die Kinder zuletzt ohne mich gar nicht mehr leben konnten und mich immer umdrängten, und der Schullehrer wurde schließlich mein ärgster Feind. Ich hatte dort viele
Feinde, alle um der Kinder willen. Sogar Schneider machte mir Vorwürfe. Und was fürchteten sie eigentlich? Man kann einem Kind alles sagen, geradezu alles; mich hat oft die Wahrnehmung
überrascht, wie schlecht die Erwachsenen die Kinder kennen, sogar die Väter und Mütter ihre eigenen Kinder. Man darf den Kindern nichts unter dem Vorwand verheimlichen, sie seien noch zu klein,
und es sei für sie noch zu früh, dies und jenes zu wissen. Welch ein trauriger, unglücklicher Gedanke! Und wie gut merken es die Kinder selbst, daß die Väter sie für zu klein und unverständig
halten, während sie doch in Wirklichkeit alles verstehen! Die Erwachsenen wissen nicht, daß die Kinder selbst in den schwierigsten Angelegenheiten oft einen sehr guten Rat geben können. O Gott,
wenn einen so ein hübsches Vögelchen vertrauensvoll und glücklich anblickt, da schämt man sich ja, es zu betrügen! […]“
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Philoclopedia (Montag, 21 Oktober 2024 14:37)
„Mit vierzehn las ich Dostojewskis ‚Der Idiot‘. Es war mein Einstieg in die Große Russische Literatur, die mich durch Pubertät und Jugend begleitete und mir quälende Sehnsucht, Aufregung und in Anflügen von Panik die Ahnung schenkte, es könne einen Sinn des Lebens geben, dazu das Gefühl universellen Mitleids und immer wieder überraschend sarkastische Einblicke, die mir den Atem verschlugen…“ (Francesca Melandri, 2024, Kalte Füße)