Große Pause. Wir, die Klasse 6C des Gymnasiums bei St. Michael, schnappen uns den Tennisball aus der Pausenkiste und rennen zum Schulgang. Dass wir bereits mehrmals verwarnt wurden, „wir dürften kein Fußball auf den Gängen spielen“, stört uns wenig. Ein wirkliches Fußballspiel war es auch nicht. Wir nennen unsere Eigenkreation „Foulfußball.“
Kurz vor dem Pausenklingeln werde ich, während ich auf das Tor (bzw. die Tür) zu dribbele, noch einmal um gegrätscht. Zunächst will ich noch weiter spielen, doch schnell wird mir der Schmerz zu stark. Als der Schmerz im Bein nicht nachlassen will, gehe ich ins schulische Krankenzimmer und von dort aus dann auch recht schnell ins städtische Krankenhaus. (Am Telefon leitet uns der Hausarzt sofort dahin weiter.)
Ein unfreundlicher Doktor Utthof (Name abgeändert) meint ich hätte mir bestimmt nur etwas verstaucht und solle mich, Zitat: „nicht so anstellen.“ Ich bestehe jedoch auf eine Untersuchung und werde zum Röntgen geschickt. Als ich und meine Mutter mit dem Röntgenbild zurück zu Herrn Utthof kommen, schaut es sich dieser genervt an. Ich war zu dem Zeitpunkt 11 Jahre alt. Als der Doktor sich das Bild kurz angesehen hatte, drehte er sich um und sagte mir in das Gesicht:
„Du wirst bald sterben.“
Ich habe einen Tumor im Beinknochen (deshalb brach er auch so schnell, er war quasi hohl). Der Doktor diagnostizierte, er wäre zu über 90 Prozent bösartig und meint gegen Ende des Gespräches dann sogar noch, ich solle mich schon einmal von meinen Mitmenschen verabschieden. Ich finde keine Worte für das was ich jetzt fühle, während ich diese Worte vernehme. Ich habe zuvor noch nie wirklich über so etwas nachgedacht. Tod. Sterben. Vergänglichkeit. Als falle man und warte nur noch hilflos auf den tödlichen Aufprall.
In ihrem Buch „Interviews mit Sterbenden“ definiert Elisabeth Kübler-Ross die anerkannten fünf Phasen des Sterbens. Nichtwahrhabenwollen, Zorn, Verhandeln, Depression, Akzeptanz. Die Akzeptanz sollte bei mir nie kommen. Vielleicht auch, weil geringe prozentuale Hoffnung besteht, wenn auch nur eine äußerst geringe.
Ich werde noch am selben Tag operiert. Seitdem liege im Krankenhaus, wo ich nur unter einem Morphium ähnlichem Schmerzmittel Ruhe vor den Schmerzen finde. Eine Art Institut in der Schweiz (hier bin ich mir nicht mehr ganz sicher, vielleicht war es auch Österreich) sollte den Befund aus meinem Knochen untersuchen und ich in 2 Monaten erfahren, ob der Tumor wirklich bösartig sei. Auf der Innenseite meines rechten Unterschenkels bekomme ich eine Titanplatte angebohrt, die für Stabilität sorgen soll. Von der Außenseite wird operiert. Nun brauche ich wohl Ruhe und muss meinen Fuß unentwegt hochlegen und kühlen. Ich kann nur mit Schmerztabletten schlafen und habe leider sehr viel Zeit, über all das nach zu denken. Ich weiß, dass mir nichts übrig bleibt als abwarten und so lese ich viele Bücher und versuche mich auf diese Weise manchmal vorübergehend in Fantasiewelten flüchten. Was anderes bleibt wohl kaum übrig. Mich überfordert die Situation total.
Jetzt durchlebe ich zunächst Phase des „Nicht-Wahr-Haben-Wollens“. Ich darf lange nicht in die Schule. Ich habe keine wirkliche Hoffnung, dass der Befund doch noch gutartig ausfallen könnte, aber einen (christlichen) Glauben, der mir ein wenig Halt gab. (Auch wenn bereits hier kleine Zweifel aufkamen. Was ist, wenn doch nichts ist? Kann es sein, dass ich in die Hölle komme?). Ich und die Gemeinde, die ich regelmäßig besuche und in der ich in vielen Funktionen aktiv bin betet in der Zeit viel für mich. Dass mich meine Eltern mich doch mit 11 Jahren nicht zu Grabe tragen müssten.
Auch mit der häufigen Thematisierung kam die Bewusstwerdung. Wenn ich bis zu einem gewissen Zeitpunkt die Frage, ob meine eigene Existenz bald aufhören könne erfolgreich verdrängte, fing sie sich jetzt unentwegt an sich mir zu stellen. Die Phase des Zorns bricht an. Manchmal bin ich aber auch zu schwach, zu verzweifelt um wirklich zornig zu sein. Sitze im Bad und weine. Verzweifle. Falle immer tiefer und tiefer. Ungewissheit scheint schlimmer, als eine schlimme Gewissheit.
Ich will es mir vor niemanden anmerken lassen, aber ich habe das Gefühl daran
zu zerbrechen. Man soll aber nicht wegen mir traurig sein. Was sollen Mama, Papa, Freunde und Verwandte schon tun? Also isoliere ich mich emotional. Und frage mich immer wieder:
Warum Ich?
Nach 2 Monaten sagt man uns im Krankenhaus, dass kein endgültiges Ergebnis vorliegt und der Befund erst noch in Amerika untersucht werden müsse.
Insgesamt wartete ich über ein halbes Jahr auf das Ergebnis. Irgendwann besuche ich auch wieder die Schule. Ich lief mit Krücken (nach meiner ersten OP war ich auch einmal kurz im Rollstuhl) und muss mir deshalb meine Schulsachen tragen lassen. War ich früher ein sehr extrovertierter und selbstbewusster Junge, wurde ich jetzt ruhiger und - überlegter. Ich rede nicht mehr als nötig über den Tumor. Auch weil ich denke, dass man zwar die Worte vernehmen, aber nicht nachvollziehen kann wie so was wirklich ist. Wenn man denn noch nie durch etwas Vergleichbares gehen musste. Ein Mitteilungsbedürfnis habe ich nicht wirklich. Für meine Mitschüler habe ich einen komplizierteren Knochenbruch der eben operiert werden musste. Ich fresse viel in mich hinein. Bin überfordert.
In der Zeit nun, kurz bevor ich den endgültigen Befund zu meinem Fuß bekomme, intensiviert sich noch einmal alles. Ein durcheinander von Gefühlen umschlingt mich. Immer mehr und mehr. Es kommt alles auf einmal und verlor sich im Nichts. Doch es war längst nicht mehr ein rein negatives Erlebnis! Ich bin nackt, ich war hilflos. Und - ich bin lebendig, wie nie zuvor in meinem Leben. Ich bin auf eine ganz besondere weiße und in so vieler Hinsicht frei. Ich lerne Seiten des Lebens kennen, die mein eigenes Dasein irgendwie auf ganz andere qualitative, tiefere Ebenen stellen.
Warten. Warten.
Als ich schließlich über einen halben Jahr nach meinem Knochenbruch, mit dem alles anfing, mit meiner Mutter in das Krankenhaus gehe, empfängt uns wieder Herr Utthof. Nachdem er lange über vielerlei anderes, recht belangloses gesprochen hatte, sagte er auf meiner Nachfrage hin noch beiläufig, dass es gegen seine Erwartungen und die der Kollegen doch ein gutartiger Tumor sei. Landung. Freude einhand mit vollkommener emotionaler Überforderung. Heulend liege ich in den Armen meiner Mutter und realisiere allmählich. Es ist eingetreten, worauf ich aufgegeben hatte zu hoffen. Irgendwie hatte sich doch noch ein rettender Fallschirm aufgetan.
Bis vor guten 2 Jahren habe ich meinen Fuß einmal jährlich röntgen lassen. Der Tumor hatte nicht gestreut. Nein, er ist irgendwie komplett zurückgegangen. Ich wurde noch einmal operiert und die Titanplatte hinausgenommen.
Mit diesem Hintergrundwissen kann man wohl auch verstehen, warum ich danach für eine gewisse Zeit eine solche Affinität gegenüber der christlichen Religion entwickelt hatte. Die Gemeindeältesten hatten sich bei mir versammelt um Gottes Segen über mich aus zu sprechen und alles drehte sich gegen all unsere Erwartungen tatsächlich zum Guten. Auf christlichen Zeltlagern erzählte ich vor über 300 Personen meine Geschichte.
Heute erinnern mich nur noch 2 Narben am Fuß und diese Titanplatte (siehe Bild oben) in der Schublade meines Bücherregals an das Ganze. Nicht einmal die Klasse musste ich wiederhole. Schicksal, Zufall, Gott – was oder wer auch immer. Von tiefstem Herzen:
Danke!
Karin (Sonntag, 10 Februar 2019 10:30)
Deine Geschichte berührt mich sehr - vielen Dank, dass du sie teilst!
sapereaudepls (Dienstag, 14 April 2015 01:19)
Vielen Dank Ihnen, ja mit ihren Ausführungen haben sie sicher recht.
Allein aus "heiterem Himmel" hätte das Ganze wohlmöglich garnnicht kommen müssen: Meine Mutter arbeitete früher als Haushaltshilife und als sie mit mir schwanger war nahm sie als solche gerade einen Einsatz in einem Ein-Personen-Haushalt wahr. Der Haus(halts)herr rauchte Kette und meine Mutter somit zwangsweise mit (wir sind eine relativ zu G.Deutschland arme Familie und brauch(t)en das Geld). Als ich schließlich zur Welt kam sagte man meinen Eltern, es sei ein Wunder, dass ich überhaupt lebend zur Welt gekommen bin.
Bei Schwangerschaft schadet (Passiv-)rauchen eben doppelt, - Frau und Kind. Und erhöht eben das Tumor/Krebsrisiko.
Die Konfrontion mit dem eigenen Tod war also ein lebenslanger Begleiter und sie hat mich tatsächlich sehr geprägt. Noch mehr verändert hat mich allerdings, das schätzen auch außenstehende so ein, die mich die ganze Zeit über erlebt haben, meine Zeit in Panama:
http://www.sapereaudepls.de/passion/auslandsjahr-panama/
Die schicke ich Ihnen auch sehr gerne hinüber. Peru ist echt großartig, es "läuft bei mir" wie es im Jugendslang so schön heißt. Bisher bin ich leider noch nicht dazu gekommen hier etwas dazu zu schreiben (auch das hier tippe ich heimlich rasch ins Smartphone, aber so soll so ein Erlebnis auch sein, umtriebig), spätestens in Deutschland wird das aber nachgeholt!
Herr Klomo (Dienstag, 14 April 2015 00:22)
Krass.. So eine Aussage aus "heiterem Himmel".. Ich glaube aber, so etwas prägt einen positiv und lässt einen manches anders - gelassener sehen.
Liebe Grüße dir, rüber nach Peru!