"Erste Philosophie" ist eine auf Aristoteles zurückgehende Bezeichnung für die vorrangige oder grundlegende theoretische „Wissenschaft, die das Seiende als solches betrachtet.“
Die Auffassung darüber, welcher Disziplin diesen Primat zustehe, hat sich über die Geschichte der Philosophie hinweg stark gewandelt:
Aristoteles selbst sah die Metaphysik in der Rolle einer Ersten Philosophie. Den Titel Metaphysik trägt eine nach Aristoteles zusammengetragene Sammlung von Einzelwerken mit thematischen Überschneidungen. Den philosophischen Terminus verwendete Aristoteles so jedoch nie selbst, er ist vermutlich auf den Herausgeber der aristotelischen Schrift Metaphysik, Andronikos von Rhodos, zurückzuführen. In der Metaphysik beschreibt Aristoteles eine allen anderen vorgeordnete Wissenschaft, die Erste Philosophie. Diese setze sich aus drei Disziplinen zusammen: Ontologie, Theologie und Metawissenschaft.
Heute verstehen wir unter „Metaphysik“ die Beschäftigung mit den Voraussetzungen, Prinzipien und Grundstrukturen der Wirklichkeit bzw. allen Seins. Die Metaphysik möchte die Akzidenzien, Substanz und Beziehungen der Wirklichkeit, aber auch Fragen nach dem Anfang von Allem, der Existenz Gottes oder der Unsterblichkeit der Seele, klären.
In der Neuzeit verlor die Metaphysik ihre antike interdisziplinäre Präzedenz in der theoretischen Philosophie. An ihrer statt trat die Erkenntnistheorie als Erste Philosophie. Dazu hat zum einen einen rasanten Fortschritt und Erfolg in den empirischen Einzelwissenschaften, der die metaphysische Methode in Frage stellte, als auch eine innerdisziplinäre Krise innerhalb der Metaphysik, beigetragen.
In Folge der Krise der Metaphysik halfen allen voran zwei Philosophen der Erkenntnistheorie an ihrer Stelle als Erste Philosophie zu treten: Descartes und Kant.
René Descartes wollte sich auf keine Annahmen verlassen müssen, sondern seine Philosophie nur auf unbezweifelbare Gewissheiten aufbauen. Ein kartesischer Dämon beispielsweise könnte uns die komplette Außenwelt nur vorgaukeln. Bevor man also eine Metaphysik über die Welt formulieren könne, müsse man sich erst einmal fragen, was wir überhaupt gewiss von der Welt wissen können. Für Descartes steckte die einzige derartige Gewissheit im Satz „cogito ergo sum“, zu Deutsch: Ich denke, also bin ich.“ Von diesem radikalen Skeptizismus, einer erkenntnistheoretischen Position, aus begründete er seine Metaphysik. Am Anfang seiner Philosophie, quasi als Erste Philosophie, standen also erkenntnistheoretische Überlegungen.
Immanuel Kant stoß die Metaphysik endgültig von ihrem Thron. In der Kritik der reinen Vernunft und der Prolegomena brachte er gute Argumente dafür hervor, dass Metaphysik als Wissenschaft nicht möglich ist. Er versuchte nichts weniger als aufzuzeigen, dass die traditionelle Metaphysik entweder das Limit des Erkennbaren überschreiten (Thematisierung von Gott, Seele, warum überhaupt etwas ist usw.), oder durch Epistemologie ersetzt werden müsste. Mehr als Erkenntnistheorie, als Fundierung der empirischen Wissenschaften, könnte die theoretische Philosophie nämlich nicht leisten.
Linguistic Turn
Aber auch diese Annahme, die Erkenntnistheorie solle das methodische Fundament einer wissenschaftlichen Metaphysik legen, wurde mit der Zeit zunehmend in Frage gestellt. Der Erfolg, der die Erkenntnistheorie im Neukantianismus erlebte, verebbte nämlich, indem Philosophen des 19. und 20. Jahrhunderts, namentlich genannt seien hier Frege, Russel und (der frühe) Wittgenstein, eine sprachphilosophische und geistesphilosophische notwendige Bedingung für eine Erkenntnistheorie zeigten, die diese selbst jedoch nicht mehr untersuchen kann.
Fasst man die normative Erkenntnistheorie nämlich als den Versuch auf, qualifizierte, kognitive Mittel und Wege für den Erwerb von Erkenntnis, Wissen und Wahrheit zu finden auf, so liegt dem Unterfangen Erkenntnistheorie die stillschweigende Annahme zugrunde, dass wir so etwas wie einen kausal intentionalen Informationsaustausch zur Außenwelt haben oder haben können. Diese Annahme kann selbst jedoch nicht erkenntnistheoretisch verifiziert werden. Die Sprachphilosophie und die Philosophie des Geistes versuchen eine Theorie der Bedeutung zu erarbeiten und so diese Erklärungslücke zu schließen. Womit deutlich wurde, dass es einer Bedeutungstheorie bedarf, bevor Erkenntnistheorie überhaupt möglich ist und selbige folglich auch nicht die Erste Philosophie sein kann. Seit dieser linguistischen Wende an galten die Sprachphilosophie und die Philosophie des Geistes als Erste Philosophien.
Mit seitheriger weiterer Erforschung und dem damit einhergehenden neuen Verständnis der theoretischen Philosophie und ihrer einzelnen Fachrichtungen erscheint sie uns mehr als ein Konglomerat sehr eng miteinander verwobener Ausprägungen, denn als eine streng hierarchische Abfolge. Oder einfacher gesagt: Eine erste Philosophie scheint es nach dem aktuellem Stand der Dinge nicht zu geben, denn irgendwie hängen alle Gebiete voneinander ab und bedingen sich gleichzeitig auch.
Kommen wir auf den Anfang, die These von der Metaphysik als Erste Philosophie, zurück. Sie ist auf die Erkenntnistheorie angewiesen, denn ohne richtige Erkenntnis kann es auch keine Beschreibung der Welt geben. Somit kann die Metaphysik nicht die Erste Philosophie stellen. Aber ohne zu erkennendes Objekt (Ontologie bzw. Metaphysik) oder einen auf diesen referierenden mentalen Zustand oder Begriff (Semantik) ist auch die Erkenntnistheorie witzlos. Auch sie kann dem Anspruch einer Ersten Philosophie also nicht gerecht werden. Das kann bei Lichte betrachtet die Sprachphilosophie und die Philosophie des Geistes aber genauso wenig. Denn Postulate außerweltlicher Bedeutungsentitäten können nicht Gegenstand einer philosophischen Forschung sein, ohne dass sie unserer Erkenntnis zugänglich sind.
Denkt man diese wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnisse weiter, kann man zu dem Entschluss kommen, dass die aristotelische Vorstellung einer priorisierenden Rangordnung innerhalb der theoretischen Philosophie falsch ist. Wohlmöglich beschreibt ein Bild aus der Biologie das Verhältnis unter den jeweiligen Zweigen besser: Die Symbiose. Die einzelnen Disziplinen der theoretischen Philosophie scheinen in einem symbiotischen Verhältnis zueinander zu stehen, indem sie alle voneinander partizipieren und sich weiterhelfen. Abstrahiert von all den anderen Disziplinen könnte eine allein nicht oder nur sehr viel schlechter über die Welt theoretisieren.
Stand: 2014