Nicht nur wir Menschen können lernen. Auch Rotkehlchen und sogar so einfach strukturierte Wesen wie Fadenwürmer können sich Dinge merken und ihr Verhalten anpassen. Das hilft Forschern zu verstehen, welche Rolle die Gene beim Lernen haben.
Das Stichwort „Lernen“ erinnert an Schule: Vokabeln büffeln, verstehen, wie man die zweite Ableitung einer Exponentialfunktion löst, oder sich merken, wann der Sturm auf die Bastille stattgefunden hat und was dabei passierte. Das sind alles sehr komplexe Leistungen – und typisch für den Menschen und seine moderne Lebensart. Dennoch ist Lernen keine Domäne des Menschen oder höherer Tiere mit komplexen Gehirnen. Vielmehr können bereits sehr einfach strukturierte Wesen viele Dinge lernen.
So auch der in der Erde lebende, nur einen Millimeter lange
Fadenwurm
Caenorhabditis elegans: Lässt man den Nematoden hungern und „versalzt“ ihm gleichzeitig seine Umgebung, so kombiniert er beide Ereignisse. Fortan meidet der Wurm salzige Gegenden und kriecht
lieber woanders hin. Salz, so hat er sich gemerkt, könnte bedeuten, dass es wenig Futter gibt. Entsprechend passt er sein Verhalten an: War ihm der Salzgehalt in seiner Umgebung bislang
weitgehend egal, so ist er nun ein Grund zu fliehen. Lernen ermöglicht demnach einem Lebewesen, Umweltveränderungen wahrzunehmen und darauf zu reagieren, indem es sein künftiges Verhalten
anpasst.
DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE
· Auch sehr einfach strukturierte Tiere wie etwa Fadenwürmer können lernen. Das ermöglicht es ihnen, Umweltveränderungen wahrzunehmen und darauf zu reagieren, indem sie ihr späteres Verhalten anpassen.
· Um lernen zu können, sind die Gene wichtig. Nur mit einem angeborenen Lern-Mechanismus kann sich ein Lebewesen Dinge aneignen.
· Auch wenn wir Menschen sprechen lernen, sind die Erbanlagen wichtig. Sehr gut untersucht ist das Gen FOX P2. Es wurde entdeckt bei einer englischen Familie mit Sprachbehinderung.
· Die Prägung ist eine Form des Lernens, die sehr strikten Regeln folgt: Es gibt eine sensible Phase, außerdem ist sie irreversibel.
· Bestimmte Dinge, etwa das Verständnis der Muttersprache, erlernen wir Menschen in bestimmten Entwicklungsphasen. Diese werden Lernfenster genannt.
Caenorhabditis elegans ist für viele Forschungsdisziplinen ein beliebtes Versuchstier und zudem sehr gut untersucht. Das liegt unter anderem daran, dass der Wurm nur wenige Zellen hat – beim ausgewachsenen Tier sind es gerade mal 959. Zudem ist genau festgelegt, welche Zelle welche Aufgabe übernimmt. Das gilt auch für das Nervensystem des Fadenwurms: Es besteht aus 302 Neuronen, die über rund 5.000 Synapsen miteinander verknüpft sind. Forschern gelang es in den letzten zehn Jahren exakt ausmachen, welche Zellen dafür verantwortlich sind, dass der Wurm lernt, salziges Wasser zu meiden. Es ist nur eine Handvoll. Fehlen einzelne, so ist Caenorhabditis elegans nicht mehr in der Lage, sein Verhalten anzupassen.
So zeigt bereits das einfache Wurm-Verhalten, dass es zum Lernen weit mehr braucht als Input von außen. Auch der Organismus selbst muss bestimmte Vorraussetzungen mitbringen. Forscher kennen mittlerweile einige der Gene, die der Wurm benötigt, damit seine Neuronen ihre Eigenschaften beim Lernprozess modulieren können. Nur wenn Caenorhabditis elegans von seinen Eltern die entsprechenden Erbanlagen bekommen hat, entwickelt er auch die Nervenverschaltungen, die er benötigt, um etwa das Vermeiden von salzigem Wasser zu lernen.
Die Vererbung spielt auch bei komplexerem Lernstoff eine wichtige Rolle. Ein Rotkehlchen etwa kann sehr gut navigieren. Kehrt es aus seinem Winterquartier zurück – manche Rotkehlchen ziehen in der kalten Jahreszeit gen Süden –, so steuert es präzise den Garten an, aus dem es Monate zuvor gestartet ist. Die Flugroute und die Umgebung seiner Sommerheimat hat es sich auf dem Hinweg eingeprägt.
Das Gehirn des Vogels muss dafür so ausgestattet sein, dass es eine innere Karte speichern kann. Diese Fähigkeit ist Rotkehlchen angeboren. Zieht man sie ohne den Kontakt zu älteren Artgenossen in einer Voliere auf, zeigen sie im Herbst ein auffälliges Verhalten: Die Tiere flattern sehr häufig zur südwestlichen Seite ihres Käfigs. Das ist die Richtung, in der ihre Winterquartiere, etwa in Südspanien, liegen. Abschauen konnten sie sich das Verhalten nicht – die grobe Flugrichtung muss demnach angeboren sein. Sie ist in den Genen gespeichert. Die exakte Navigation eignen sich die Vögel dagegen erst während des tatsächlichen Fluges an. Das Zugverhalten ist also – so wie viele komplexe Verhaltensweisen – eine Kombination aus Erlerntem und Geerbtem.
Wie wichtig die Gene auch für das menschliche Lernen sind, zeigt eine Untersuchung aus dem Jahr 1990, die für einen wissenschaftlichen Durchbruch auf diesem Gebiet sorgte. Die britische Neurowissenschaftlerin Faraneh Vargha-Khadem hatte mit Kollegen bei einer Londoner Familie – sie wurde in Wissenschaftlerkreisen unter dem Namen KE-Family berühmt – eine Auffälligkeit ausgemacht: Etwa die Hälfte der 30 Familienmitglieder ist sprachbehindert. Die Betroffenen verfügen zwar über einen normalen Intelligenzquotienten, sind aber nicht der Lage, Mund und Zunge kontrolliert zu bewegen, um verständliche Laute zu bilden. Auch sonst haben sie erhebliche Probleme mit den Wörtern: Sie benutzen eine einfachere Grammatik als ihre gesunden Geschwister, brauchen länger, um komplexe Sätze zu verstehen und verfügen über einen kleineren Wortschatz.
In den Folgejahren untersuchten Genetiker die Familie. Es zeigte sich, dass ein einzelnes mutiertes Gen für die Störung verantwortlich zeichnet: das so genannte FOX-P2-Gen. Es spielt eine Schlüsselrolle beim Spracherwerb, hat aber auch andere Funktionen. Zahlreiche Forschergruppen sind den genauen Wirkmechanismen von FOX P2 auf der Spur. Sie wollen entschlüsseln, wie sich unser Gehirn zu einem Organ entwickeln kann, das so etwas Komplexes wie eine Sprache erlernen kann.
In den Genen ist aber nicht nur festgelegt, was wir lernen können, sondern auch, wann wir dazu am besten in der Lage sind. Das verdeutlichen etwa die berühmten Versuche des Verhaltensforschers Konrad Lorenz. In den 1930er-Jahren untersuchte er, wie frisch geschlüpfte Graugänse sich an ihre Mutter binden. Die Jungvögel haben eine sehr enge Bindung zu ihrer Mama und laufen ihr überallhin nach. Ist sie mal nicht in Sichtweite, beginnen die Küken aufgeregt zu quieken. Heißt das, dass die Kleinen wissen, wer ihre Mutter ist?
Lorenz fand heraus, dass die Gänse kein angeborenes Mutterbild besitzen. Sie folgen vielmehr dem ersten Individuum, das sie nach dem Schlüpfen sehen. Diese erste Erfahrung entscheidet darüber, wem sie hinterherwatscheln – egal, wie die vermeintliche Mutter aussehen mag. So kam es zu den bekannten Szenen von Konrad Lorenz mit seiner Graugansschar, die ihm auf Schritt und Tritt folgte und mit dem Forscher gemeinsam baden ging. Die Küken hatten nach dem Schlüpfen als erstes den Wissenschaftler gesehen und waren ihm wie einer Mutter gefolgt.
Lorenz nannte diese Form des Lernens Prägung. Dabei ist die Art, wie der Vogel das Wissen annimmt, erblich vorprogrammiert. Die „Nachlaufprägung“ findet bei Graugänsen nur in einer sehr kurzen Phase nach dem Schlüpfen statt: in der so genannten sensiblen Phase. Damit die Prägung funktioniert, muss auch das Objekt, auf das sich der Lernvorgang bezieht, bestimmte Voraussetzungen erfüllen: Es sollte sich bewegen und rhythmische Laute von sich geben. So gelang es Konrad Lorenz nicht nur, Graugänse auf sich selbst zu prägen, sondern auch zum Beispiel auf einen Ball, in den ein Lautsprecher eingebaut war.
Auch bei anderen Verhaltensweisen spielen prägungsähnliche Lernvorgänge eine Rolle. Bestimmte Meeresschildkröten etwa merken sich das Magnetfeld-Muster des Strandes, an dem sie geschlüpft sind, und vergessen es das ganze Leben nicht. So finden sie den Strand zielsicher wieder, wenn sie Jahre später, nach einer langen Reise durch die Ozeane, zur Ei-Ablage zurückkehren. Bei manchen Tierarten beeinflusst die Prägung sogar die Wahl des Sexualpartners. Setzt man einen Zebrafinken in das Nest einer anderen Vogelart und lässt ihn dort aufwachsen, so balzt er später bevorzugt die Artgenossen seiner Adoptiveltern an. Anderen Zebrafinken zeigt er die kalte Schulter.
Wie wichtig solche Lernmechanismen für uns Menschen sind, ist umstritten. Ein wesentliches Merkmal der Prägung ist die sensible Phase. Diese kennt man auch beim Homo sapiens: Nur im Babyalter sind wir in der Lage, eine Sprache optimal zu erlernen – unsere Muttersprache. Ein Beispiel: Erwachsene Japaner sind normalerweise nicht in der Lage, die Buchstaben R und L zu unterscheiden. Japanische Säuglingen können aber – wie alle Neugeborenen – diesen Unterschied zunächst durchaus wahrnehmen. Wachsen die Babys nun aber in einer Familie auf, in der japanisch gesprochen wird, verlieren sie diese Fähigkeit. Sie können dann ab dem Alter von etwa zehn Monaten nicht mehr heraushören, ob jemand ein R oder ein L intoniert. Demnach gibt es eine sehr frühe sensible Phase, in der Menschenbabys die Laute ihrer Muttersprache erlernen. Untersuchungen deuten sogar darauf hin, dass bereits das Ungeborene im Mutterleib auf die Sprechweise seiner Mama einstellt.
Pädagogen sprechen in diesem Zusammenhang von Lernfenstern, die sich zu einer bestimmten Zeit öffnen. In der Phase vom dritten bis zum neunten Monat lernen Babys beispielsweise, Gesichter zu unterscheiden. Wie auch bei Prägungsvorgängen ist dieses Zeitfenster nicht starr, sondern wird neben dem biologischen Alter auch durch Erfahrung bestimmt. Gelegentlich werden Säuglinge geboren, die auf beiden Augen grauen Star haben und deswegen blind sind. Durch einen chirurgischen Eingriff erlangen manche von ihnen später ihre Sehfähigkeit. Erfolgt dieser Eingriff erst in einem Alter von neun Monaten oder später, dann ist das Lernfenster für die Gesichtserkennung eigentlich geschlossen. Dennoch können die kleinen Patienten sehr bald Gesichter unterscheiden. Allerdings mit einer Einschränkung, wie eine Untersuchung betroffener Neunjähriger zeigte: Sie konnten zwar problemlos Augen- und Nasenformen unterscheiden. Veränderten die Forscher aber lediglich die Abstände der Augen in den Testgesichtern, bemerkten die jungen Probanden den Unterschied nicht. Normalerweise fällt Kindern das sofort auf. Offenbar gelingt es denjenigen, die als Säuglinge blind waren, nicht so gut, ein Gesicht als Gesamtheit zu begreifen. Dafür hatte sich wohl das Lernfenster bereits geschlossen.
Lernbereitschaft und Lernfähigkeit sind demnach auch bei uns Menschen zumindest zum Teil genetisch bestimmt. Wissenschaftler sprechen von angeborenen Lern-Mechanismen, die den Rahmen vorgeben, was, wann und wie gelernt wird. Und solche Mechanismen besitzt auf simplem Niveau bereits der Fadenwurm, wenn er lernt, salziges Wasser mit „kein Futter da“ zu assoziieren.
· Ardiel, E. & Rankin, C.: An elegant mind: Learning and memory in Caenorhabditis elegans. Learning and Memory. 2010; 17:191-201 (zum Text).
· Blakemore, S.-J., Frith, U: Wie wir lernen. Was die Hirnforschung darüber weiß. DVA, 2005.
Stand: 2016
Gastbeitrag von: Ragnar Vogt