Die Mögliche‐Welten‐Semantik ist eine intensionale, wahrheitskonditionale Bedeutungstheorie.
Wahrheitskonditionale Semantiken (1) erklären, was Wahrheitsbedingungen sind, indem sie auf mögliche Welten zurückgreifen. (2) Diese Idee lässt sich generalisieren: Wir können (in erster Näherung) die Bedeutung eines Namens, Prädikats und Satzes mit seiner Intension gleichsetzen. Die resultierende intensionale Semantik ist dann (3) referenziell und (3,5) fügt sich überdies in eine generelle Theorie der Repräsentation und Kommunikation ein.
Grundidee 1: Wir können erklären, was Wahrheitsbedingungen sind, wenn wir auf mögliche Welten zurückgreifen.
Sätze sind typischerweise unter bestimmten Umständen wahr und unter anderen Umständen falsch. Die Wahrheitsbedingungen eines Satzes sind alle die Umstände, unter denen er wahr ist. Genauer: Die Wahrheitsbedingungen eines Satzes S sind alle möglichen Umstände U, für die gilt: Wenn U der Fall wäre, dann wäre S wahr.
Nehmen wir als Beispiel den Satz S "Pavarotti ist berühmt". S ist wahr, wenn U: Pavarotti viele Tonträger verkauft hat, viele Menschen von Pavarotti gehört haben und sein Foto erkennen, zu seinem Grab pilgern, etc. Kurz: Die Wahrheitsbedingungen U des Satzes S sind alle die möglichen Situationen, in denen S wahr ist.
Wahrheitsbedingungen sind also Mengen von möglichen Situationen respektive Mengen von ‚möglichen Welten’. Die Wahrheitsbedingung eines Satzes S2 kann also die Teilmenge der Wahrheitsbedingungen eines anderen Satzes S1 sein. Die Wahrheitsbedingungen von S1 "Es schneit" umfasst alle möglichen Welten, in denen es schneit: WB("Es schneit") = {w1, w2, w15, w27 ...}. Und die Wahrheitsbedingungen von S2 "Es schneit heftig" sind dann eine Teilmenge der Wahrheitsbedingungen von "Es schneit": WB("Es schneit heftig") Í WB("Es schneit").
Daraus folgt: Der Satz S1 folgt genau dann aus dem S2, wenn die Wahrheitsbedingungen von S1 die Wahrheitsbedingungen von S2 einschließen.
Wie kann man Wahrheitsbedingungen angeben?
Eine erste Antwort bietet die einfache minimalistische Wahrheitstheorie: Satz S ist wahr gdw. es der Fall ist, dass S. "Pavarotti ist reich" ist beispielsweise wahr gdw. Pavarotti reich ist.
Das ist aber zu schwach. Denn diese Theorie gibt nur für eine Situation – die tatsächliche – an, was in ihr der Fall ist, wenn "Es schneit" wahr ist. Wir wollen dies aber für alle möglichen Welten angeben.
Deshalb formulieren wir als verbesserte minimalistische Wahrheitstheorie: Satz S ist wahr in Welt w gdw. es in w der Fall ist, dass S. "Pavarotti ist reich" ist beispielsweise wahr in Welt w gdw. es in w der Fall ist, dass Pavarotti reich ist.
Kurz gesagt sind die Wahrheitsbedingungen eines Satzes also nichts anderes als eine Verteilung von Wahrheitswerten über alle möglichen Welten. Noch kürzer: Wahrheitsbedingungen sind Wahrheitswerte‐in‐Welten.
Formal sind die Wahrheitsbedingungen von S = die Menge der möglichen Welten, in denen S wahr ist. Wieder kürzer: Wahrheitsbedingungen sind Mengen von Welten. Die Wahrheitsbedingungen von "Pavarotti ist reich" sind beispielsweise diejenigen Welten bzw. ist die Menge von Welten, in denen Pavarotti reich ist.
Grundidee 1*: Die Wahrheitsbedingungen eines Satzes S ist die Menge von möglichen Welten, in denen S wahr ist.
Grundidee 2: Grundidee 1 lässt sich generalisieren. Wir können (in erster Näherung) die Bedeutung eines Eigennamens, Prädikats und Satzes mit seiner Intension gleichsetzen.
Die Intension eines Eigennamens gibt für jede Welt w den Gegenstand an, den er in w bezeichnet. Der Eigenname "Der 44. Präsident der USA" gibt beispielsweise in w1 Barack Obama an, in w2 John McCain und in w3 Kayne West.
Die Intension eines Prädikats gibt für jede Welt w die Menge der Gegenstände an, auf die das Prädikat in w zutrifft. Das Prädikat "_ist intelligent" trifft beispielsweise in w1 auf Barack Obama, in w2 auf Albert Einstein und in w3 auf Kayne West zu.
Die Intension eines Satzes gibt für jede Welt w den Wahrheitswert an, den der Satz in w hat. Damit entspricht die Intension eines Satzes seinen Wahrheitsbedingungen. Der Satz S "Der 44. Präsident der USA ist intelligent" ist beispielsweise in w1 wahr, denn in w1 ist Barack Obama der 44. Präsident der USA und er ist intelligent. W1 gehört also zu der Menge der möglichen Welten, in denen S wahr ist.
Intensionen sind also eindeutige Zuordnungen (genauer: Funktionen) von Welten auf Gegenstände bzw. Wahrheitswerte. Die Intension eines Satzes (= seine Wahrheitsbedingungen) kann dabei genau so aus den Intensionen seiner Teile erklärt werden, wie die Extension eines Satzes (= seinen Wahrheitswert) aus den Extensionen seiner Teile erklären werden kann.
Grundidee 3: Die resultierende intensionale Semantik ist referenziell, d.h. Eigennamen beziehen sich auf Gegenstände in der Welt und Prädikate treffen auf Gegenstände in der Welt zu. Die resultierende mögliche‐Welten‐Semantik erklärt also, worin die Bedeutung unserer Ausdrücke und Sätze (primär) besteht:
· Die Bedeutung eines Ausdrucks ist seine Intension.
· Die Bedeutung von Eigennamen besteht in dem, was sie – je nach möglicher Welt – bezeichnen.
· Die Bedeutung von Prädikaten besteht darin, worauf sie – je nach möglicher Welt – zutreffen.
· Die Bedeutung von Sätzen besteht in ihren Wahrheitsbedingungen.
Mit Hilfe der mögliche-Welten-Semantik lassen sich die Wahrheitsbedingungen für Sätze der Form "Es ist notwendig, dass S" (formal: □S) und "Es ist möglich, dass S" (formal: ◇S) angeben:
· □ S ist wahr gdw S in allen möglichen Welten wahr ist.
· ◇ S ist wahr gdw es (mindestens) eine mögliche Welt gibt, in der S wahr ist.
Der Satz S1: "2 + 2 = 4" ist beispielsweise dann notwendig wahr, wenn S1 in allen möglichen Welten wahr ist.
Und der Satz S2: "Der 44. Präsident der USA ist ein Reptiloid" ist dann möglich wahr, wenn es (mindestens) eine mögliche Welt gibt, in der S2 wahr ist.
Mit Hilfe der möglichen-Welten-Semantik lassen sich aber auch die Wahrheitsbedingungen von kontrafaktischen Konditionalen wie S3: "Wenn Kängurus keine Schwänze hätten, würden sie umfallen" (formal: S □® P) angeben. S □® P ist nämlich wahr gdw. in den zu unserer Welt nächsten Welten, in denen S wahr ist, auch P wahr ist. "Kängurus haben keine Schwänze □® sie fallen um" ist also beispielsweise wahr gdw. in den zu unserer Welt nächsten Welten, in denen Kängurus keine Schwänze haben, Kängurus hintenüber fallen (vgl. David Lewis: Counterfactuals).
Grundidee 3,5: Die intensionale Semantik fügt sich bündig in eine generelle Theorie der Repräsentation und Kommunikation ein.
Diese Idee wird u.a. von Frank Jackson, jedoch nicht von allen Vertretern einer intentionalen Semantik geteilt, sie ist insofern keine wirkliche Grundidee.
Ignorieren wir mal kurz Sprechen und Denken.
Was für Dinge (im weitesten Sinne) repräsentieren etwas als so‐und‐so seiend – haben einen Gehalt, handeln von oder beschreiben etwas, etc.?
· Was repräsentieren diese Dinge?
· Tun sie dies auf natürliche oder nicht‐natürliche Weise?
· Sind sie kommunikativ im engen Sinne, d.h. dienen sie der Informationsübermittlung?
Drei Beispiele:
Baumringe: die Anzahl der Ringe repräsentiert das Alter des Baumes natürlich (aufgrund von Witterung) nicht‐kommunikativ.
Bienentänze: Ausrichtung und Länge repräsentieren Richtung und Entfernung ergiebiger Nahrung. natürlich (genetisch) kommunikativ.
Schatzkarten: repräsentieren die Lage eines bestimmten Schatzes nicht‐natürlich (konventional) kommunikativ.
Frage 1: Was heißt hier ‚repräsentieren’?
A. Repräsentieren heißt, Möglichkeiten auszuschließen, wie sich die Dinge verhalten.
„13 14 20 28 29 33“ repräsentiert die Lottozahlen vom 23.5.2009.
Warum? Weil hier alle anderen Möglichkeiten für die Zahlen ausgeschlossen sind.
Ein feines Kreuz auf der Schatzkarte repräsentiert die Lage des Schatzes.
Warum? Weil hier alle sonstigen Möglichkeiten für seine Lage ausgeschlossen sind.
Ein mittelgroßer Kreis auf der Schatzkarte wäre weniger informativ.
Warum? Weil er eine ganze Reihe möglicher Lagen des Schatzes nicht ausschließt.
Frage 2: Was ist ein repräsentationaler Gehalt?
B. Etwas ist umso informativer, je mehr Möglichkeiten es ausschließt.
Warum ist ein Farbfoto informativer als ein Schwarz‐Weiß‐Bild desselben Motivs?
Weil das Farbfoto Möglichkeiten ausschließt, die das s‐w‐Bild nicht ausschließt.
Dies sind Möglichkeiten darüber, welche Farben die abgebildeten Gegenstände haben.
C. Möglichkeiten auszuschließen ist nichts anderes als mögliche Welten als die aktuale Welt auszuschließen.
Unsere Grundfrage: Wie ist unsere Welt? Welche der vielen möglichen Welten ist die aktuale, d.h. die Welt, in der wir leben?
Jede Information über unsere Welt erlaubt uns, mögliche Welten als die aktuale Welt auszuschließen.
Es erlaubt uns zu sagen: In diesen Welten leben wir nicht.
(Dabei betrachten wir stets nur bestimmte Welten als in Frage kommend.)
D. Der repräsentationale Gehalt von etwas X entspricht der Menge M der möglichen Welten, von denen X ausschließt, dass sie die aktuale sind.
166 Ringe am Stamm von Oldtree schließen z.B. aus, dass unsere aktuale Welt eine ist, in der Oldtree nicht 166 Jahre alt wurde.
Ein Kreuz bei 21° 18′ 32″ N 157° 49′ 34″ W auf der Schatzkarte schließt aus, dass unsere Welt eine ist, in der der Schatz woanders liegt.
Frage 3: Warum ist das für einen Sprachphilosophen interessant?
„Der Mörder von Tölz ist der Butler“ – schließt alle anderen Möglichkeiten (den Gärtner, die Ehefrau, den gestiefelten Kater etc.) aus.
„Es regnet gerade“ – schließt für den relevanten Ort viele Möglichkeiten aus, wie das Wetter dort ist.
Einsicht: Sätze (bzw. Äußerungen) haben repräsentationale Gehalte. Sie repräsentieren die Welt als auf eine bestimmte Weise seiend und erlauben uns, Möglichkeiten auszuschließen.
Das passt exzellent zu unserer intensionalen Semantik, gilt doch:
à Die Wahrheitsbedingungen eines Satzes und sein repräsentationaler Gehalt sind zwei Seiten ein‐ und derselben Medaille. Sie legen einander wechselseitig fest.
Die Wahrheitsbedingungen von „Es schneit“ = die Menge der Welten, in denen es schneit.
Der repräsentationale Gehalt von „Es schneit“ = die Menge der Welten, die dadurch ausgeschlossen sind, d.h. die Menge der Welten, in denen es nicht schneit.
Diese Mengen bestimmen einander. Wenn ich weiß, in welchen Welten S wahr ist, weiß ich auch, welche Welten S als aktuale ausschließt.
àWir können die intensionale Semantik also als eine Theorie der repräsentationalen Gehalte von Ausdrücken und Sätzen verstehen.
Frage 4: Was ist Sprache? Sprache ist wesentlich ein Mittel der Repräsentation und Kommunikation (eng verstanden als Informationsübermittlung).
Inwiefern ist Sprache ein Mittel der Repräsentation? Sätze haben Wahrheitsbedingungen und damit repräsentationale Gehalte.
Inwiefern ist Sprache ein Mittel der Kommunikation (eng verstanden)? Weil sie Wahrheitsbedingungen und damit repräsentationalen Gehalt haben, können wir uns mit behauptenden Äußerungen von Sätzen gegenseitig darüber informieren, wie unsere Welt ist (bzw. wie wir glauben, dass sie sei).
- Die Behauptung ist nicht, dass Sprache nur der Informationsübermittlung dient. Die These ist, dass dies ein wesentlicher Aspekt natürlicher Sprachen ist.
- Der Repräsentationalist betont, dass eine Theorie von Wahrheitsbedingungen /repräsentationalen Gehalten nur ein Element einer vollständigen Sprachtheorie sein kann. Aber sie ist der Kern der Semantik – so die These.
- Was muss hinzukommen? Mindestens eine Theorie von Referenz (generell: der Eigenschaften von Wörter bzw. Teilen von Sätzen) und eine Theorie von Sprechakten (von Handlungen, die wir mit Äußerungen vollziehen).
Hilary Putnam – ein Vertreter der extensionalen Semantik – hat ein vielbeachtetes Gedankenexperiment gegen die intensionale Semantik hervorgebracht. Es lässt sich in einer mögliche-Welten-Semantik formulieren: Es ist möglich, d.h. es gibt mindestens eine mögliche Welt, die unserer Welt weitestgehend ähnlich ist, außer dass die Flüssigkeit, die auf der Zwillingserde "Wasser" genannt wird, nicht die chemische Struktur H20 besitzt, sondern XYZ. Dabei kommt die Flüssigkeit mit der chemischen Struktur auch in Meeren, Flüssen und Wasserhähnen vor und hat darüber hinaus dieselben Oberflächeneigenschaften wie die Flüssigkeit mit der chemischen Struktur H20. Beide Flüssigkeiten sind durstlöschend, geruchs- und farblos usw., sie lassen sich allein mit Hilfe einer chemischen Analyse voneinander unterscheiden.
Auf der Erde lebt eine Person Tom, die auf der Zwillingserde einen Doppelgänger Zwillings-Tom hat, der unter exakt denselben Wahrheitsbedingungen den Satz "Wasser ist durstlöschend" äußert wie Tom. Nach der intensionalen Semantik müsste dieser Satz bei beiden also dieselbe Bedeutung haben. Es ist indes klar, dass Tom mit dem Satz "Wasser ist durstlöschend" im Deutschen etwas anderes aussagt als Zwillings-Tom mit demselben Satz im Zwillingsdeutschen, denn im Deutschen bezeichnet der Artbegriff "Wasser" die Flüssigkeit mit der chemischen Struktur H20, während es im Zwillingsdeutschen die Flüssigkeit mit der chemischen Struktur XYZ bezeichnet. Also ist der semantische Intesionalismus unzureichend.
Wie beantwortet die Mögliche-Welten-Semantik die drei Grundfragen der Sprachphilosophie?
1. Was ist sprachliche Bedeutung?
Die Bedeutung eines Ausdrucks ist seine Intension. Die Bedeutung eines Satzes sind seine Wahrheitsbedingungen, d.h. sein Wahrheitswert‐über‐Welt‐hinweg,
die Bedeutung eines Bezeichners ist sein Bezug‐über‐Welten‐hinweg,
und die Bedeutung eines Prädikats
ist die ihm entsprechende Eigenschaft. D.h.: Bedeutung ist Bezug‐über‐mögliche‐Welten‐hinweg.
2. Worauf beziehen sich sprachliche
Ausdrücke?
Ein Eigenname bezieht sich in einer Welt auf einen Gegenstand, und ein Prädikat trifft in einer Welt auf Gegenstände zu.
3. Was kann man mit Sprache alles tun?
Die intensionale Semantik ist nur der Kern einer umfassenden Semantik. Diese muss dazu eine Theorie von Sprechakten enthalten.
Stand: 2018