Der semantische Holismus (auch: Bedeutungsholismus) besagt, dass nicht einzelne Ausdrücke sondern ganze Sprachen Träger von Bedeutung sind.
„the doctrine that only whole languages or whole theories or whole belief systems really have
meanings, so that the meanings of smaller units … are merely derivative“.
- Jerry Fodor und und Ernest Lepore über den Semantischen Holismus
Willard Van Orman Quine entwickelte den semantischen Holismus in seinem Hauptwerk Word and Object (2. Kapitel). Er entwarf darin die These der "Unbestimmtheit der Übersetzung" und folgerte daraus die "Unbestimmtheit der Referenz" und die "Unbestimmtheit der Theorie" (siehe: Unbestimmtheitsthesen).
Ein Sprachforscher soll eine radikal neue Sprache übersetzen, für die es kein Wörterbuch und auch keinen Dolmetscher gibt. Der Sprachforscher ist also komplett auf die Gesten und Äußerungen der Ureingeborenen angewiesen, die diese Sprache sprechen. Also begleitet er sie und macht sich Notizen über ihre Äußerungen, auf deren Grundlage er ein Übersetzungshandbuch erstellen will.
Immer wenn ein Kaninchen vorbeihuscht, sagt ein Eingeborener "Gavagai". Deshalb geht der Forscher davon aus, dass Gavagai (1) "Kaninchen" bzw. "dies ist ein Kaninchen" bedeutet. Es gibt aber kein Kriterium zu entscheiden, ob Kaninchen und Gavagai tatsächlich den gleichen Bedeutungsumfang haben. Aufgrund der Beobachtungsdaten könnte "Gavagai" auch genauso gut bedeuten:
(2) "Dies ist ein unabgetrenntes Kaninchenteil."
(3) "Dies ist ein Abbild der Kaninchenidee."
(4) "Dies ist ein (zeitliches) Kaninchenstadium."
(5) "Dies
ist eine inkarnierte Kaninchengottheit."
(6) uvm.
Die Referenz des Begriffes "Gavagai" ist durch die Datenlage des Forschers unbestimmt. Nach der These der Unbestimmtheit der Referenz könnte "Gavagai" nicht auf (1) Kaninchen, sondern auf ganz andere Entitäten referieren. Nach (2) referiert es nur auf ein Teil des Kaninchens. Und mit (3) ist die ontologische Annahme verbunden, dass Kaninchen nur ein Abbild der abstrakten und fundamentaleren Idee eines Kaninchens ist. Bei (4) referiert der Begriff "Gavagai" auf das aktuelle zeitliche Stadium des Kaninichens. Und bei (5) referiert er auf eine Kaninchengottheit und impliziert einen Theismus.
Die Verifikationstheorie behauptet, dass die Bedeutung eines Satzes empirisch festgestellt werden kann. Das ist nach Quine aber falsch. Für Quine gibt es keine empirische Verhaltensweise, die dem Forscher zeigen könnten, was das Wort "Gavagai" bedeutet. Nach der These der Unbestimmtheit der Übersetzung wäre es möglich, zwei Übersetzungshandbücher zu schreiben, die aber beide mit allen empirischen Daten übereinstimmen, die aber völlig gegensätzlich sind.
Die Unbestimmtheit der Übersetzung zeigt sich aber nicht nur zwischen zwei Sprachen. Auch beim Erlernen einer einzigen Sprache ist ein Baby nicht dazu in der Lage, einzelne Wörter zu erlernen. Es muss erst viele Sätze hören, bis es sich die Bedeutung eines Ausdruckes erschließen kann. Und selbst Sprecher der gleichen Sprache können sich nicht sicher sein, dass sie mit einem Ausdruck dieselbe Bedeutung verbinden. Das Baby und der Sprachgebabte können also nicht einzelne Ausdrücke, sondern nur ganze Sprachen auf ihre Bedeutung hin überprüfen (Überprüfungsholismus).
Willard Van Orman Quine übernimmt nun die These des Verifikationismus, Semantischer Gehalt sei empirischer Gehallt. Er weist aber die Vorstellung zurück, dass einzelne Wörter empirisch gehaltvoll sein können. Stattdessen seien nur Sprachen in ihrer Gesamtheit empirisch und somit semantisch gehaltvoll:
(P1) Semantischer
Gehalt ist immer empirischer Gehalt. D.h. ein sprachliches Element hat nur dann eine Bedeutung, wenn es empirisch überprüfbar ist (Verifikationismus).
(P2) Empirisch überprüfbar sind Sprachen, nicht einzelne Ausdrücke (Überprüfungsholismus).
(K1) Nicht Ausdrücke, sondern Sprachen sind die Träger von Bedeutung (Semantischer Holismus).
„[O]ur statements about the external world face the tribunal of experience not individually but only as a corporate body“
- Willard Van Orman Quine: Zwei Dogmen des Empirismus, S. 41
Wenn aber nur Theorien und keine Sätze Bedeutung haben, kann es keine rein analytischen Sätze geben. Denn jeder Satz über Bedeutungszusammenhänge hängt wieder mit Sätzen über Weltwissen zusammen und ist somit nicht mehr rein analytisch. Ein vermeintlich analytischer Satz ist letztlich mit den empirischen Sätzen verwoben, und umgekehrt gilt dies für die vermeintlich rein synthetischen Sätze. Die Unterscheidungen von analytisch und synthetisch sowie von Bedeutungswissen und Weltwissen müssten folglich aufgegeben werden.
Quine spricht deshalb auch gar nicht nur von Sprachen, sondern von ganzen Theorien als Bedeutungsträgern. Wie das "Gavagai"-Gedankenexperiment gezeigt hat, hängen einzelne Sätze nicht nur von anderen Sätzen derselben Sprache ab. Sie sind auf vielfältige Weise auch mit anderen Sätzen über individuelle Erfahrungen und metaphysische Annahmen verbunden. Zusammen bilden diese Sätze eine netzartige, kugelförmige Struktur. An der Peripherie dieser Kugel liegen die Sätze, die von Sinneserfahrungen handeln. Näher dem Mittelpunkt liegen Sätze der Metaphysik oder Physik und noch weiter innen die grundlegenden Sätze über die Weltanschauung oder Mathematik und Logik. Diese Sätze hängen alle eng miteinander zusammen. Wenn sich ein bisher als wahr angenommener Satz als falsch erweist, müssten sie alle überprüft werden.
„The unit of empirical significance is the whole of science“
- Willard Van Orman Quine: Zwei Dogmen des Empirismus, S. 42
Stand: 2018