Der Erkenntnistheoretische Kohärentismus ist eine epistemologische Theorie, der zufolge eine Überzeugung gerechtfertigt ist, wenn oder genau dann wenn sie ein Element eines maximal kohärenten Systems von Überzeugungen ist.
Nach den klassischen Rechtfertigungsstrategien ist eine Überzeugung, dass q, eine Rechtfertigung für die Überzeugung, dass p, gdw. p (wahrscheinlich) wahr ist, falls q wahr ist. D.h. Rechtfertigungen sind mindestens wahrheitsförderlich.
Daraus folgt: S kann nur in der Überzeugung, dass p, gerechtfertigt sein, wenn er mindestens eine weitere Überzeugung q besitzt. Die Überzeugung q braucht dann aber auch wieder eine Überzeugung r, um selbst gerechtfertigt zu sein etc.
Beispiel: Ich bin der Überzeugung p, dass "Hund" auf Englisch "dog" heißt und rechtfertige dass mit der Überzeugung q, dass es im Oxford Dictionary steht. Warum aber soll q eine gute Rechtfertigung für p sein? Offenbar braucht q selbst wieder eine Rechtfertigung r, die q als Rechtfertigung für p rechtfertigt usw. usf.
Um einen infiniten Rechtfertigungsregress zu verhindern, nimmt der Fundamentalismus an, dass es sog.
"Basisüberzeugungen" gibt. Diese garantieren ihre eigene Rechtfertigungen und brauchen deshalb keine weiteren rechtfertigenden Gründe. D.h: Jeder Grund ist irrelevant
und selbst dann, wenn man eine Basisüberzeugung aus unsinnigen Gründen hat, ist sie
gerechtfertigt.
Laurence BonJour bestritt, dass es solche Basisüberzeugungen im Bereich des Empirischen geben kann. Nehmen wir bspw. Ü "vor mir steht ein Laptop":
(i) Entweder Ü ist durch meine introspektive Sinneserfahrung oder anderes gerechtfertigt, dann ist Ü qua definitonem keine Basisüberzeugung.
(ii) Oder Ü ist nicht durch meine introspektive Sinneserfahrung oder anderes gerechtfertigt, dann ist Ü aber auch nicht durch sich selbst gestützt, denn ich könnte mich wegen einer außenweltskeptiztischen Alternative in Ü irren.
Also: BonJour verwirft den Fundamentalismus. Wenn es nach ihm geht, ist die Vorstellung von einer "Baumstruktur der Rechtfertigung" grundsätzlich falsch und aus diesem Grund brauchen wir ein ganz neues Bild von Rechtfertigungen:
Der Kohärentismus setzt sich aus zwei konstitutiven Thesen zusammen:
(1) Eine Rechtfertigung hängt immer von Überzeugungen ab.
(2) Eine Rechtfertigung ist Teil eines geschlossenen, kohärenten Systems.
Daraus folgt: Laut der Kohärenztheorie der Rechtfertigung ist eine Überzeugung genau dann gerechtfertigt, wenn sie Element eines maximal kohärenten Systems von Überzeugungen ist.
(1) Auch der Kohärenztheoretiker rechtfertigt eine Überzeugung p durch eine andere Überzeugung q. Führt das nicht wie gehabt in einen Regress oder Zirkel?
(2) Nein. Denn für den Kohärenztheoretiker besteht Rechtfertigung nicht in einem Regress, sondern in dem Nachweis, dass die Überzeugung zu einem kohärenten System von Überzeugungen gehört.
Anders ausgedrückt: Für den Kohärentisten hat Rechtfertigung keine Baumstruktur, für ihn ist Rechtfertigung holistisch.
Frage: Was ist "Kohärenz"? Und was zeichnet ein "maximal kohärentes System von Überzeugungen" aus?
Antwort 1: Viele definieren Kohärenz durch "Konsistenz". D.h. Ein System von Überzeugungen ist (maximal) kohärent, gdw. es keine Widersprüche enthält.
Problem: Konsistenz reicht nicht aus. Denn aus der Logik weiß man, dass es beliebig viele konsistente Mengen von Überzeugungen gibt, die nicht alle wahr sein können.
Antwort 2: Ein System von Aussagen ist kohärent, genau dann wenn es nur Aussagen enthält, die entweder die beste Erklärung anderer Aussagen des Systems darstellen oder durch Aussagen der ersten Art erklärt werden.
Dementsprechend: Ein System ist maximal kohärent, wenn in ihm so viel wie möglich erklärt wird und nur so viel wie nötig unerklärt bleibt.
Die Grundlage von Kohärenz ist hier also der Schluss auf die beste Erklärung.
Die Kohärenztheorie hat mit (mindestens) drei Grundproblemen zu kämpfen:
A. Das Problem gleichwertiger und inkompatibler maximal kohärenter Überzeugungssysteme. Auch nach der zweiten Definition wird es immer noch (beliebig) viele alternative Überzeugungssysteme geben, die genauso kohärent und deshalb nach dem Kohärentismus auch (genauso!) gerechtfertigt sind.
B. Das Problem des fehlenden Weltbezugs. Gemäß dem Kohärentismus werden empirische Überzeugungen allein durch ihre Beziehungen zu einem System von Überzeugungen gerechtfertigt. Ein solches in sich geschlossenes System von Überzeugungen kann nichts mit der Welt zu tun haben und trotzdem maximal kohärent sein. Denn eshängt an keiner Stelle von Wahrnehmungs-überzeugungen ab und kann daher auch kein empirisches Wissen konstituieren.
C. Das Problem des Zusammenhangs von Kohärenz und Wahrheit. Nach den klassischen Strategien ist Rechtfertigung wahrheitsförderlich. Kohärenz ist aber nicht wahrheitsförderlich. Märchen z.B. können kohärent, aber unwahr sein.
Laurence BonJour versucht die Kohärenztheorie zu retten:
1. Auch spontane Wahrnehmungsüberzeugungen müssen durch andere Überzeugungen gerechtfertigt werden.
Beispiel: Die spontane Beobachtungsüberzeugung "vor mir steht ein Laptop", muss durch andere Überzeugungen gerechtfertigt werden:
a. Ich habe diese Überzeugung durch visuelle Wahrnehmung gewonnen.
b. Die Umstände, d.h. die Lichtverhältnisse und meine Sehkraft waren gut.
c. Wenn man außenweltkeptizistische Argumente ausschließt, sind Meinungen durch Wahrnehmung unter günstigen Umständen wahrheitsförderlich.
2. Ein System von Überzeugungen ist nicht statisch, sondern flexibel, d.h. es verändert sich sich ständig u.a. aufgrund von Wahrnehmungsüberzeugungen.
Beobachtungsforderung: Ein System von Überzeugungen muss sich an neue Wahrnehmungsüberzeugungen anpassen können. Dabei werden neue Wahrnehmungsüberzeugungen in der Regel nicht einfach additiv hinzugefügt. Sie können einerseits auch eine Anpassung oder Negation alter Überzeugungen erzwingen, etwa weil sie alte Überzeugungen falsifizieren oder dies die innere Kohärenz des Systems erhöhen würde. Sie können andererseits aber auch abgelehnt werden.
A. Das Problem gleichwertiger und inkompatibler maximal kohärenter Überzeugungssysteme. Wenn zwei gleich kohärente Überzeugungssysteme existieren, dann ist es zumindest unwahrscheinlich, dass diese unter neuen Wahrnehmungsüberzeugungen gleich kohärent bleiben. A wurde zT. entkräftet.
B. Das Problem des fehlenden Weltbezugs. Dank der Beobachtungsforderung müssen neue empirische Überzeugungen in ein Überzeugungssystem integriert werden. B wurde also gelöst.
C. Das Problem des Zusammenhangs von Kohärenz und Wahrheit. Ist Kohärenz wahrheitsförderlich?
Bonjour: Ja. Nehmen wir an, wir haben ein Überzeugungssystem, das die Beobachtungsforderung erfüllt, vermutlich aber unwahr ist. Dann ist es unwahrscheinlich, dass dieses Überzeugungssystem auch zukünftig kohärent bleibt, wenn es nicht zu gunsten einer größeren Übereinstimmung mit der Realität, das heißt eines höheren Wahrheitsgehalts revidiert wird.
Wenn die fehlende Übereinstimmung mit der Realität Beobachtungstatsachen betrifft, dann werden neue Beobachtungen entsprechende Beobachtungen Inkohärenzen erzeugen und daher Revisionen
erzwingen. Wenn
bei diesen Revisionen die Beobachtungsforderung nicht verletzt wird, wird sich das System dabei in Richtung auf eine größere Übereinstimmung mit der Realität bewegen. Wenn die mangelnde
Übereinstimmung nicht‐beobachtbare
Teile der Welt
betrifft, dann gibt es hingegen zwei Möglichkeiten:
(a) Diese Teile haben Wirkungen auf die beobachtbaren Teile der Welt. Dann wird eine eine vollkommen kohärente Erklärung der beobachtbaren Teile auf lange Sicht auch zu wahren Theorien über die nicht beobachtbaren Teile führen.
(b) Diese Teile haben keine Wirkungen auf die beobachtbaren Teile der Welt. In diesem Fall versagen alle Rechtfertigungstheorien.
"Es ist in hohem Maße unwahrscheinlich, wenn auch nicht unmöglich, dass ein
Überzeugungssystem, das mit der Welt nicht übereinstimmt und das die Beobachtungsforderung erfüllt, kohärent wäre und unter dem Einfluss neuer Beobachtungen kohärent bleiben würde, wenn es nicht
in Richtung auf eine größere Übereinstimmung mit der Welt revidiert würde."
- Laurence BonJour
Stand: 2019
Philoclopedia (Montag, 16 September 2019 14:38)
Kohärentistische Theorien der Rechtfertigung waren stets dem Vorwurf ausgesetzt, dass der Kohärenzbegriff zu vage ist, um philosophisch tragfähig zu sein. Doch bereits bei Lewis (1946) findet sich die Idee, diesen Begriff wahrscheinlichkeitstheoretisch zu präzisieren. Demnach ist eine Menge von Propositionen genau dann kohärent, wenn jede Proposition p dieser Menge und die Konjunktion q aller übrigen Propositionen dieser Menge positiv abhängig sind, also P(p|q) > P(p). Darüber hinaus wurden zahlreiche sogenannte probabilistische Kohärenzmaße entwickelt, die den Kohärenzgrad einer Menge angeben sollen. Hierbei wird zwischen drei Klassen von Maßen unterschieden: Maße basierend auf der Idee von Abweichung von Unabhängigkeit, relativer Überlappung und durchschnittlicher gegenseitiger Stützung. Für eine Menge von zwei Propositionen p und q wird die Abweichung von Unabhängigkeit typischerweise durch P(p ∧ q) / [P(p) × P(q)] gemessen, die relative Überlappung durch P(p ∧ q) / P(p ∨ q) und die durchschnittliche gegenseitige Stützung beispielsweise durch [P(p|q) − P(p) + P(q|p) − P(q)] / 2 oder ein anderes probabilistisches Stützungsmaß, das im Rahmen einer wahrscheinlichkeitstheoretischen Theorie der Stützung diskutiert wird.
Die Idee, mit wahrscheinlichkeitstheoretischen Mitteln den Kohärenzbegriff zu fassen, ist jedoch nicht unumstritten. So wurden in der Literatur sogenannte Unmöglichkeitsresultate vorgebracht, die zeigen, dass bestimmte wünschenswerte Eigenschaften von keinem probabilistischen Kohärenzmaß erfüllt werden können. Diese Unmöglichkeitsresultate beziehen sich beispielsweise auf die Wahrheitsförderlichkeit von Kohärenz oder auf den Zusammenhang zwischen bestimmten logischen Eigenschaften von Mengen von Propositionen und deren Kohärenzgrad. Doch diese Ergebnisse haben der weiteren Untersuchung von probabilistischen Kohärenzmaßen keinen Abbruch getan. Ganz im Gegenteil. In der aktuellen Literatur werden weiter neue Maße entwickelt, neue Eigenschaften formuliert und die Maße werden hinsichtlich ihrer kognitionspsychologischen Plausibilität untersucht (für einen Überblick zu diesen Ansätzen mit weiterführender Literatur siehe: Michael Schippes: Probabilistic Measires of Coherence: From Adeqacy Constraints Towards Pluralism).
WissensWert (Sonntag, 30 September 2018 19:47)
https://de.wikipedia.org/wiki/Koh%C3%A4renztheorie#Koh%C3%A4renztheorien_der_Rechtfertigung_(Koh%C3%A4rentismus)