Kyle Stanford (2017) unterscheidet drei Arten von naturalisierter Metaphysik:
- Komplementäre Metaphysik (Vertreter: L. A. Paul): Die Metaphysik verwendet dieselben Methoden – wie etwa den Schluss auf die beste Erklärung, Gedankenexperimente und empirische Experimente - wie die Einzelwissenschaften und wendet diese auf eigenständige Fragen an. Sie steht also
in methodischer Hinsicht mit der Wissenschaft in Verbindung.
- Szientistische Metaphysik (Vertreter: James Ladyman und Don Ross): Die Metaphysik zieht wissenschaftliche Theorien hinzu, um eigenständigen Fragen nachzugehen. Die Metaphysik steht in inhaltlicher Hinsicht mit der Wissenschaft in Verbindung.
- Metaphysik der Wissenschaften (Vertrer: Willard Van Orman Quine): Die Metaphysik arbeitet die ontologischen Voraussetzungen und Verpflichtungen aus unseren besten wissenschaftlichen Theorien heraus.
Diese Formen schließen sich keinesfalls einander aus.
Diese Formen der naturalisierten Metaphysik schließen sich nicht aus. Ich werde ich im Folgenden für ein Verständnis der naturalisierten Metaphysik im Sinne von (1) und (2) und gegen (3) argumentieren. Dabei orientiere ich mich an dem Buch "Every Thing Must Go - Metaphysics Naturalized" von James Ladyman und Don Ross. Dieses Werk ist eine Standardreferenz zur naturalisierten Metaphysik.
James Ladyman und Don Ross haben mit Every Thing Must Go: Metaphysics Naturalized ein vielbeachtetes Buch vorgelegt. Das Buch ist klug, provozierend und dicht geschrieben. Es enthält mehr interessante Gedanken, als im Rahmen dieser Besprechung angemessen besprochen werden können. Ich diskutiere daher nur die Kerngedanken der zentralen Kapitel eins und drei. Dabei widmet sich der erste Abschnitt dieser Rezension zugleich auch dem ersten Kapitel des Buches, in welchem Ladyman und Ross ihre metametaphysikalischen Überzeugungen darlegen.
Der zweite Abschnitt der Rezension behandelt dann das dritte Kapitel des Buches. In diesem motivieren Ladyman und Ross ihre revolutionäre Metaphysik des ontischen Strukturenrealismus durch die Relativitätstheorie und die Quantenphysik. Auf den ontischen Strukturenrealismus (OSR) bezieht sich dann auch der Titel des Buches: ,Every Thing Must Go´ bringt die Überzeugung des OSR zum Ausdruck, dass letztendlich nur Relationen und gar keine Dinge oder Objekte als Relata dieser Relationen in der physikalischen Welt existieren. Ich persönlich sympathisiere im Allgemeinen stark mit der dem Buch zugrunde liegenden Idee einer naturalisierten Metaphysik und eines naturwissenschaftlichen Weltbildes. Allerdings haben mich die Ansätze und Argumente von L&R im Speziellen nicht überzeugt. Im dritten Abschnitt bringe ich deshalb einige Verbesserungsvorschläge und eigene Überlegungen zur naturalisierten Metaphysik an.
Das erste Kapitel des Buches ist der sogenannten Metametaphysik gewidmet. Darunter versteht man das Studium von Fragen wie: Was ist der Gegenstandsbereich der Metaphysik? Was könnten die Methoden einer aufgeklärten Metaphysik sein? Auf welchen Quellen beruht metaphysisches Wissen und ist dieses überhaupt möglich?
Ladyman und Ross (fortan kurz: L&R) beginnen das Kapitel mit einer grundsätzlichen Kritik an der klassisch-analytischen Metaphysik.
[1] Darunter verstehen sie Metaphysik, welche entweder auf
(i) a priori Methoden oder (ii) völlig veralteten wissenschaftlichen Überzeugungen beruht. Ein Beispiel für eine rein apriorische Metaphysik ist der modale Realismus von
David Lewis. Lewis behauptet, dass alle möglichen Welten genauso real sind wie unsere aktuale Welt. Eine mögliche Welt ist dabei eine vollständige Art und Weise, wie unser Universum hätte sein
können. In einer möglichen Welt hat also Al Gore die US-Wahl 2000 gewonnen und in einer anderen bevölkern grüne Kängurus die Andromedagalaxie. Lewis glaubt nun, dass alle diese Welten tatsächlich
existieren. Er hat eine ganze Reihe von Argumenten für diese Sicht entwickelt[2], die vor allem auf Kosten-Nutzen-Analysen gründen rein a priori sind, das heißt nicht auf Erfahrungen beruhen.
[1] Ladyman und Ross (2007), Kapitel 1.2.
[2] Lewis (1986).
Ein weiteres Beispiel ist
Frank Jacksons Argument des unvollständigen Wissens.[3] Jackson fordert uns auf, uns eine perfekte Neurowissenschaftlerin namens Mary vorzustellen. Mary weiß alles, was es wissenschaftlich über das Farbsehen von Menschen zu
wissen gibt. Beispielsweise weiß sie genau, welche elektrischen Impulse und biochemischen Reaktionen sich bei einer bestimmten Rotwahrnehmung im Gehirn eines Menschen abspielen. Der Clou ist,
dass Mary aber bisher in einem schwarz-weißen Raum gelebt und also noch nie selbst eine Rotempfindung hatte. Jackson behauptet jetzt, dass es etwas gibt, dass Mary noch nicht weiß,
nämlich wie es sich subjektiv anfühlt, die Farbe Rot wahrzunehmen. Diese zentrale Annahme seiner Argumentation kann er aber offenbar nicht empirisch belegen, sondern
beruht auf einem Rückgriff auf Intuitionen. Sie wird gerechtfertigt durch einen Schluss, der sich auf diese allgemeine
Form bringen lässt:
[3] Jackson (1982,
1986).
(*) Es wird ein Fall imaginiert, in dem F intuitiv (nicht) X ist, was die Annahme rechtfertigt, dass F tatsächlich (nicht) X ist.
Etliche Argumente in der zeitgenössischen analytischen Metaphysik haben diese Form. Kommen wir
zu der Metaphysik, welche auf veralteten wissenschaftlichen Überzeugungen beruht. Auch diese zählt nach L&R zu der analytischen Metaphysik. Ein Beispiel, dass in fast jeder Literatur zur
naturalisierten Metaphysik auftaucht, ist die These der Humeschen Supervenienz.[4] Diese besagt, grob gesagt, dass die Welt letztendlich auf Grundlage von fundamentalen physikalischen
und intrinsischen Eigenschaften besteht. Alles andere in der Welt – einschließlich kausalen und nomologischen Beziehungen – wird durch die Verteilung dieser Eigenschaften festgelegt. Dass diese
fundamentalen Eigenschaften intrinsisch sind, bedeutet, dass sie unabhängig voneinander existieren. Diese Sichtweise geht auf Demokrits Atomismus zurück und hielt sich bis hinein in die
klassische Physik. Nach L&R induziert die moderne Quantenphysik aber keinen Atomismus, sondern einen Holismus. Sie zeichnet ein Bild von der Welt, in der es auf einer fundamentalen Ebene
nicht mehr unteilbare Objekte gibt, die ihre konstitutiven Eigenschaften unabhängig voneinander besitzen. Stattdessen gibt es dort gar keine Objekte, sondern nur noch Struktur (siehe
ausführlicher Abschnitt 2 in dieser Rezension).
[4] Ladyman und Ross (2007), Maudlin (2007), Esfeld (2008), Humphreys (2013).
Die These der Humeschen Supervenienz beruht also auf einer wissenschaftlich veralteten atomistischen Grundüberzeugung. Ähnliches gilt nach L&R auch für viele Diskussionen in der zeitgenössischen Mereologie. Die Mereologie ist die Lehre vom Verhältnis zwischen Teil und Ganzem. Laut L&R beruhen viele mereologische Diskussionen auf der "Containment-Doktrin". Nach dieser ist ein Ganzes eine Art riesiger Container, das seine Eigenschaften allein aufgrund seiner Teile und deren kausalen Interaktionen untereinander besitzt. Auch diese Vorstellung wird nach L&R durch die Quantenphysik aus Gründen falsifiziert, die wir später noch kennenlernen werden.
Wichtig ist, dass L&R Intuitionen nicht partout für unzuverlässig erklären. Wenn Experimentalphysiker die Intuition haben, dass die Welt im Innersten holistisch strukturiert ist, dann
ist diese Intuition empirisch gutbegründet und gehört deshalb ernst genommen.[5] Falls sich allerdings ein analytischer Metaphysiker wie Jackson oder Lewis auf seine
Intuitionen beruft, dann beruft er sich nach L&R auf einen vorkritischen "gesunden Menschenverstand" oder einem naturwissenschaftlich uninformierten Bauchgefühl. Das Problem nach
L&R ist dabei, dass sich unsere Intuitionen im Laufe der Evolution in Anpassung an alltägliche (mesokosmische) Größenordnungen entwickelt hat. Wenn überhaupt, dann sind unsere Intuitionen
daher nur bei alltäglichen Größenordnungen bzw. Skalen zuverlässig. Denn die Natur ist nicht skalen-invariant, das heißt, sie verhält sich nicht auf allen Größenordnungen gleich. Die newtonsche
Mechanik zum Beispiel beschreibt annähernd das Verhalten von Systemen bei alltäglichen Massen und Geschwindigkeiten. Bei nicht-alltäglichen Massen und Geschwindigkeiten verliert sie hingegen ihre
Gültigkeit. Ähnliches gilt für die Zustände der Materie. In alltäglichen Situationen erleben wir Materie in den drei Zuständen fest, flüssig und gasförmig. Unter extremen Bedingungen kann Materie
aber superfluid werden (etwa bei einem Bose-Einstein-Kondensat) und sich radikal anders verhalten. Da Nicht-Physiker Materie aber nie unter solchen Bedingungen erleben, ist das Verhalten für sie
komplett kontraintuitiv.
[5] Ladyman und Ross (2007), S. 15.
Weil die empirische Welt nicht immer skalen-invariant ist, sind empirisch uninformierte Schlussfolgerungen über Größenordnungen hinweg immer mit einem besonderen induktiven Risiko verbunden. Beispiele sind die These der Humeschen Supervenienz oder die Containment-Metapher. Beide lassen sich durch die alltägliche Erfahrung motivieren, die ein weitgehend atomistisches Weltbild nahelegen kann. Und beide übertragen dieses Bild auch auf mikroskopische Größenordnungen und verlieren dort aufgrund des Superpositionsprinzips ihre Gültigkeit. Das Problem ist nach L&R also, dass analytische Metaphysiker über die Welt reden, ohne aber unsere besten und reifsten wissenschaftlichen Theorien über die empirische Welt genaustens zu studieren. Je nachdem, welche Metapher einem lieber ist, sitzen sie in ihren Lehnstühlen oder Elfenbeintürmen und entwerfen Weltbilder aufgrund von a-priori Überlegungen oder völlig veralteten wissenschaftlichen Überzeugungen. L&R gehen so weit zu sagen, dass:
„analytic metaphysics, a professional activity engaged in by some extremely intelligent
and morally serious people, fails to qualify as part of the enlightened pursuit of objective truth, and should be discontinued. […] standard analytic metaphysics (or ‘neo-scholastic’ metaphysics
as we call it) contributes nothing to human knowledge and, where it has any impact at all, systematically misrepresents the relative significance of what we do know on the basis of
science.“
- James Ladyman und Don Ross: Every thing must go: Metaphysics Naturalized, S. vii.
Trotzdem folgen L&R nicht etwa den Philosophen des Wiener Kreises und erklären metaphysische Aussagen grundsätzlich für sinnlos. Stattdessen schlagen sie eine radikal naturalistische Metaphysik vor. Eine naturalisierte Metaphysik beruht grundsätzlich auf a-posteriorischen (empirischen) wissenschaftlichen Überzeugungen und wohlmöglich auch auf wissenschaftlichen Methoden. Zentral für das Verständnis von L&R ist dabei die Vorstellung, dass naturalisierte Metaphysik versuchen soll, wissenschaftliche Hypothesen zu vereinheitlichen, die in der gegenwärtigen Wissenschaft ernstgenommen werden. Das heißt sie soll metaphysische Theorien entwickeln, die zeigen, dass scheinbar getrennte wissenschaftliche Hypothesen tatsächlich miteinander verbunden sind. Dieser Aufgabe sollte sich eine naturalisierte Metaphysik widmen, denn erstens ist Vereinheitlichung ein erstrebenswertes epistemisches Ziel und zweitens würde sich keine Einzelwissenschaft diesem Ziel widmen. Nach einigen Anläufen formulieren L&R schließlich das Prinzip PNG:
(PNG)
Prinzip der naturalistischen Geschlossenheit:[6]
(i) Wenn reife wissenschaftliche Theorien sagen, dass eine Hypothese H außerhalb unserer Untersuchungsfähigkeiten liegt, dann darf die naturalisierte Metaphysik H auch nicht
ernstnehmen.[7] Das heißt letztendlich, dass alle ernstzunehmenden Hypothesen theoretisch empirisch überprüfbar sein müssen.
(ii) Jede metaphysische Theorie muss aufzeigen, dass zwei oder mehr wissenschaftliche Hypothesen gemeinsam mehr Erklärungskraft besitzen als für sich allein genommen und eine der
Hypothesen muss der fundamentalen Physik entspringen. Eine wissenschaftliche Hypothese ist dabei eine, die von aktuellen professionellen Wissenschaftlern ernstgenommen wird.
[6] ebd., S. 30. Die finale Version des PNG findet sich auf S. 37 – 38.
[7] Wenn uns unsere besten physikalischen Theorien also zum Beispiel sagen, dass das Produkt der Unbestimmtheit des Ortes und des Impulses eines Quantensystems nicht unter einem
bestimmten Wert fallen kann, dann sollten wir auch keine metaphysischen Spekulationen darüber aufstellen.
Ich persönlich sympathisiere stark mit der Grundidee einer naturalisierten Metaphysik. Allerdings finde ich den Ansatz von L&R im Allgemeinen zu radikal (siehe Abschnitt 3) und das Prinzip (PNG) im Speziellen wenig überzeugend. Konzentrieren wir uns auf die Aussage (ii): Es ist völlig unklar, weshalb einer der zu vereinheitlichenden wissenschaftlichen Hypothesen der fundamentalen Physik entspringen soll. Eine lebhafte Debatte in der naturalisierten Metaphysik dreht sich beispielsweise um die Frage, ob die klassische Genetik auf die molekulare Biologie zurückgeführt werden kann. Die Grundidee ist, grob gesagt, dass die klassische Genetik Gene über eine bestimmte kausale Rolle definiert. Die molekulare Biologie kann Konfigurationen von Molekülen ausmachen, welche qua Konfiguration genau die kausale Rolle ausführen, die ein bestimmtes Gen charakterisieren. Allerdings kann ein und dieselbe kausale Rolle von vollkommen unterschiedlich zusammengesetzten Molekülkonfigurationen ausgeführt werden. Dieses Problem ist als das Problem der multiplen Realisierbarkeit bekannt und stellt in Frage, ob zwischen Genen und Molekülkonfigurationen eine Typen-Identität besteht.[8] Klar ist, dass die Hypothesen aus der klassischen Genetik und der molekularen Biologie zusammen mehr erklären können als einzeln. Beispielsweise kann die Existenz von Genvorkommnissen innerhalb der klassischen Genetik nicht reduktiv erklärt werden und in der Molekularbiologie schon. Es mag sein, dass das Verhalten von Genen weiter reduziert und eines Tages durch die fundamentale Physik erklärt werden kann. Aber bis dahin bedarf es noch viel Arbeit und viele argumentative Schritte. Für mich ist absolut nicht ersichtlich, warum diese Arbeit und Argumente unabhängig von der fundamentalen Physik kein Bestandteil der naturalisierten Metaphysik sein sollten.[9]
[8] Sachse (2007).
[9] L&R argumentieren an einer Stelle (S. 37), dass das Wichtigste an der
fundamentalen Physik sei, dass sie eine universelle wissenschaftliche Theorie ist. Das heißt ihr Geltungsbereich bezieht sich zumindest dem Anspruch nach auf alle Systeme im Universum. Da die
Metaphysik sich mit Vereinheitlichung von Hypothesen über alle Systeme im Universum befasst, teilt sie mit der fundamentalen Physik diesen maximalen Anwendungsbereich. Wenn das ein Argument für
die Ansicht von L&R sein soll, dass mindestens eine der vereinheitlichenden Hypothesen aus der fundamentalen Physik stammen soll, scheint mir das ein Non-Sequitur zu sein. Denn
selbstverständlich kann und wird auch andauernd außerhalb der fundamentalen Physik wissenschaftlich vereinheitlicht!
Viele gute Argumente aus der naturalisierten Metaphysik haben überdies gar nichts mit Vereinheitlichung zu tun. Nehmen wir beispielsweise das Argument aus der Speziellen Relativitätstheorie gegen den Präsentismus[sie etwa ...]. Der Präsentismus besagt, dass nur gegenwärtige Ereignisse real existieren. Diese These liegt uns vom Alltagsverständnis her intuitiv wieder sehr nahe: Was in der Zukunft sein wird, existiert intuitiv noch nicht; was in der Vergangenheit war, existiert intuitiv nicht mehr. Und auch diese These ist in der newtonschen Physik noch unproblematisch. Denn in jener ist Gleichzeitigkeit noch eine zweistellige Relation: Zwei Ereignisse e1 und e2 finden entweder gleichzeitig statt oder nicht. In der Speziellen Relativitätstheorie hingegen ist die Gleichzeitigkeit eine dreistellige Relation: Zwei Ereignisse e1 und e2 sind immer nur gleichzeitig relativ zu einem Bezugssystem B1. In Bezug auf ein anderes Bezugssystem B2 findet e1 vor e2 statt und in Bezug auf ein drittes Bezugssystem B3 ist es gerade umgekehrt. Das Argument gegen den Präsentismus lautet also, dass es laut der speziellen Relativitätstheorie keine universelle Gegenwart gibt, weil es keine universelle Gleichzeitigkeit gibt. Also können gegenwärtige Ereignisse auch nicht gegenüber vergangenen oder zukünftigen Ereignissen allgemein realer oder sonst wie ontologisch ausgezeichnet sein. Dieses Argument ist regelrecht ein Paradebeispiel für ein Argument aus der naturalisierten Metaphysik. Es nimmt aber nur auf eine wissenschaftliche Hypothese Bezug (die Relativität der Gleichzeitigkeit) und vereinheitlicht diese nicht mit einer weiteren wissenschaftlichen Hypothese.
Das Argument gegen (PNG) lautet daher wie folgt:
(A1)
Das Argument aus der Speziellen Relativitätstheorie gegen den Präsentismus ist de facto ein Argument innerhalb der naturalisierten Metaphysik. Gleiches gilt für naturwissenschaftlich
informierte Argumente für oder wider die Reduzierbarkeit der klassischen Genetik auf die molekulare Biologie.
(A2) Wenn die Charakterisierung der naturalisierten Metaphysik durch (PNG) extensional angemessen ist, dann sind diese Argumente keine Argumente innerhalb der naturalisierten
Metaphysik.
(K1) Die Charakterisierung der naturalisierten Metaphysik durch (PNG) von L&R ist extensional nicht angemessen. Die Extension des Prinzips (PNG) ist zu eng und deshalb versagt (PNG)
als ein methodologisches Prinzip.[10]
[10] Es bleibt für mich unklar, ob das Argument gegen den Präsentismus oder die für und wider die Reduzierbarkeit der klassischen Genetik auf die molekulare Biologie für L&R deshalb keine oder schlechte naturalisierte Metaphysik sind. Oben bin ich stillschweigend davon ausgegangen, dass Letzteres der Fall ist. Wenn aber Ersteres zutrifft, dann ist das Ganze mithin nur eine Frage von sprachlichen Konventionen. Dann kann man sehr wohl "metaphysische" Theorien aufstellen, die nur eine oder keine wissenschaftliche Hypothese aus der fundamentalen Physik enthalten. Diese Theorie ist dann nicht unbedingt schlecht, sondern nur falsch benannt. Nach diesem Verständnis scheint L&R´s Forderung, dass naturalisierte Metaphysik (PNG) genügen muss, nur ein semantischer Punkt zu sein.
Letztendlich kann man sich auch fragen, ob Vereinheitlichungsleistungen wirklich der naturalisierten Metaphysik vorenthalten sind. Es stimmt zwar, dass keine Einzelwissenschaft ausdrücklich der Vereinigung im Sinne von (PNG) gewidmet ist. Trotzdem können und vereinheitlichen Einzelwissenschaftler de facto wissenschaftliche Hypothesen immerzu. Das florierende Forschungsfeld der Quantenbiologie ist hier nur ein Beispiel unter vielen. Hier werden Hypothesen aus der fundamentalen Physik (Quantenphysik) mit Hypothesen aus der Biologie vereinheitlicht und folglich Erklärungsgewinne erzielt. Tatsächlich sind interdisziplinär arbeitende Wissenschaftler Experten auf diesem Gebiet und daher scheinbar viel besser ausgebildet, um Hypothesen wissenschaftlich zu vereinheitlichen als Metaphysiker. Philosophisch gesprochen kann man das Ergebnis dieser Überlegungen so zusammenfassen: L&R wollten die Metaphysik konservativ auf die Wissenschaft zurückführen. Tatsächlich scheint die Reduktion aber eliminativ, da nach ihr keine Aufgabe für den Metaphysiker übrigbleibt.
Der zweite Abschnitt meiner Rezension widmet sich dem dritten Kapitel des Buches. In diesem Kapitel motivieren die Autoren den ontischen Strukturenrealismus anhand der Quantenphysik und der Relativitätstheorie. Der ontische Strukturenrealismus ist eine revolutionäre Metaphysik, nach der es in der physikalischen Welt letztendlich gar keine Dinge (Objekte), sondern nur Relationen gibt. Ich stelle kurz die konzeptuellen Merkmale der Quantenphysik vor (Unterabschnitt 2.1.), auf welchen die Diskussion um den ontischen Strukturenrealismus in Bezug auf die Quantenphysik beruht. Die Argumente für den ontischen Strukturenrealismus in Bezug auf die Relativitätstheorie sind ähnlich (Argument aus Unterbestimmtheit) und werden hier nicht gesondert diskutiert. Anschließend kritisiere ich die Argumente von L&R als philosophisch unzufriedenstellend.
[11] Ich folge hier lose der Darstellung der Quantenphysik in Esfeld (2002), Kapitel 7.
Die ersten und primären Gegenstände der Quantenphysik sind die Systeme auf der mikrophysikalischen Ebene der Natur. Beispiele für solche Systeme sind Elektronen und Photonen, Protonen und Neutronen einschließlich ihrer Konstituenten (Quarks) ebenso wie ganze Atome. Es ist angebracht auf diese Entitäten ontologisch neutral als "Systeme" und nicht als "Teilchen" Bezug zu nehmen, weil sie sich manchmal auch wie Wellen verhalten. Ein mikrophysikalisches System ist dabei in einem sehr weiten Sinne alles auf der grundlegenden Ebene der Natur, über das Eigenschaften prädiziert werden können.
Es kann zwischen zeitunabhängigen und zeitabhängigen Eigenschaften unterschieden werden. Eine zeitunabhängige Eigenschaft bleibt während der gesamten Existenz eines Systems unverändert. Beispiele sind die Ruhemasse und die Ladung eines Systems. Ein Elektron etwa hat immer eine Ruhemasse von 0,51 MeV und eine elektrische Ladung von -1e. Eine zeitabhängige Eigenschaft eines Systems ändert sich dahingegen mit dem Zustand eines Systems mit. Beispiele sind hier wiederum der Ort, Impuls, Energie oder Spin in einer gegebenen Raumrichtung eines mikrophysikalischen Systems.
Man kann sich das radikal Neue in der Quantenphysik nun so verdeutlichen: Nehmen wir an, die Eigenschaft eines Systems kann verschiedene Werte wie sagen wir "Up" ("↑") oder "Down" ("↓") einnehmen. Dann befindet sich das System laut der klassischen Physik immer in einem Zustand, in dem es entweder den Wert "↑" oder den Wert "↓" für diese Eigenschaft hat. Das heißt, es besitzt immer einen definiten numerischen Wert für alle seine Eigenschaften. Nach der Quantenphysik gilt für zeitabhängige Eigenschaften nun genau dies nicht. Das heißt nach dem dort gültigen Superpositionsprinzip (SP) kann sich ein System in einem Zustand der Überlagerung der Werte "↑" und "↓" befinden.
Das Superpositionsprinzip ist nicht auf einzelne Systeme beschränkt. Auch zusammengesetzte Systeme können sich in einem Zustand der Überlagerung (Superposition) von mehreren Eigenschaftswerten befinden. Das einfachste Beispiel ist ein zusammengesetztes System aus zwei Systemen von Spin ½ im Singulett-Zustand:
|Ψ-⟩ = 1 / √2 * (|↑z⟩1 |↓z⟩2 - |↓z⟩1 |↑z⟩2).
Diese Formel beschreibt den Gesamtzustand eines zusammengesetzten Gesamtsystems aus zwei Systemen mit Spin ½ wie etwa zwei Elektronen oder Neutronen. Nach ihr befindet sich das Gesamtsystem in einer Überlagerung der Zustände "erstes System Spin up und zweites System Spin down" (|↑z⟩1 |↓z⟩2) und "erstes System Spin down und zweites System Spin up" (|↓z⟩1 |↑z⟩2) in z-Richtung. Die Teilsysteme haben gar keinen Spinzustand in z-Richtung für sich genommen, ihre Spinzustände sind verschränkt.
Zustandsverschränkungen werden häufig mit einem Holismus assoziiert. Genauer gesagt werden verschränkte Ganze wie das zusammengesetzte System im Singulett-Zustand von den meisten Autoren als holistische Systeme verstanden. Dabei ist ein System grob gesagt holistisch genau dann, wenn es mehr als die Summe seiner Teile ist. Ein verschränktes Ganzes im Singulett-Zustand ist also holistisch, gdw. es in einem gehaltvollen Sinne mehr ist als die zwei Teilsysteme, aus denen es besteht. Da L&R verschränkte Ganze als holistische Systeme begreifen, sind sie auch der Ansicht, dass hier der Atomismus und die "Containment-Doktrin" versagen, nach der ein Ganzes seine Eigenschaften allein aufgrund seiner Teile und deren kausalen Interaktionen besitzt.
Der Holismus kann als eine horizontale und als eine vertikale These verstanden werden. Als eine
horizontale These besagt er Folgendes:[12] Ein System S ist holistisch genau dann, wenn die Teile, aus denen S besteht, hinsichtlich einiger ihrer konstitutiven Eigen-schaften davon
ontologisch abhängig sind, dass es andere Teile gibt, mit denen sie auf einer geeigneten Weise arrangiert sind, dass sie das System S bilden. Die betreffenden Eigenschaften werden als relationale
Eigenschaften bezeichnet. Eine relationale Eigenschaft ist eine Eigenschaft, die ein Objekt nur abhängig davon besitzt, dass es in Begleitung anderer Objekte auftritt. Diese Relationen
bestehen in den irreduziblen Beziehungen der Teile untereinander, welche das Ganze bilden. Die Teile, welche das holistische Ganze bilden, haben also einige ihrer Eigenschaften nur innerhalb des
Ganzen.
[12] ebd., Kapitel 1.4.
Der ontische Strukturenrealismus (OSR) erfüllt diese Definition des Holismus. Und damit kommen wir auf das Werk von Ladyman und Ross zurück: Der OSR in Bezug auf verschränkte Zustände besagt, dass die Elektronen des Ganzen im Singulett-Zustand einige ihrer konstitutiven Eigenschaften nur in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander besitzen. Mithin hat kein Elektron allein für sich eine dieser Eigenschaften. Vielmehr bestehen die Eigenschaften in Relationen der Elektronen untereinander. Das Ganze besteht in einer Struktur im Sinne physikalischer Relationen zwischen den Elektronen.
L&R gehen mit ihrem radikalen OSR aber noch einen entscheidenden Schritt weiter. Nach ihnen gibt es im Falle von Zustandsverschränkung gar keine Relata (Objekte) mehr, sondern nur noch Relationen (Struktur).[13] Da sie mit einer Vielen-Welten-Interpretation sympathisieren, in der Zustandsverschränkung nie aufgelöst werden, vertreten sie, dass es auf einer fundamentalen Ebene immer nur Relationen gibt. Vermeintliche Relata einer bestimmten Beziehung würden sich bei genauerer physikalischer Analyse immer als relationale Strukturen herausstellen. Diese Sichtweise motivieren sie kenntnisreich nicht nur für die fundamentale Materie durch die Quantenphysik, sondern auch für die Raumzeit-Eigenschaften durch die Relativitätsphysik (Kapitel 3). Später übertragen sie diese Sichtweise noch von der fundamentalen Physik auf die Spezialwissenschaften und bauen ihre Position somit zu einer allgemeinen relationalen Metaphysik aus (Kapitel 4).
Der radikale OSR hat viel Kritik auf sich gezogen.[14] Selbst viele Sympathisanten des OSR argumentieren, dass es keine Relationen ohne Relata geben kann. Sprich: Wenn es Relationen gibt, dann gibt es automatisch auch Relata, also Objekte, zwischen denen die Relationen bestehen bzw. die in diesen Relationen stehen. Die Philosophen Michael Esfeld und Vincent Lam haben deshalb einen moderaten OSR entwickelt, nach dem es zwar Objekte gibt, diese aber nichts über das hinaus sind, was in den Relationen steht.[15] Anders ausgedrückt sind die fundamentalen Objekte und Raumzeitpunkte also nur durch ihre relationalen Eigenschaften charakterisiert. Sehen wir uns für ein besseres Verständnis dieser Diskussion zwischen radikalen und moderaten OSR ein Beispiel an:
[14] Siehe unter anderem Busch (2003); Cao (2003); Chakravartty (1998, 2003); Esfeld (2004, 2008); Esfeld und Lam (2008); Lyre (2004); Morganti (2004); Psillos (2001, 2006); Stachel (2006); van Fraassen (2006).
[15] Esfeld (2004), Abschnitt 3; Esfeld und Lam (2008), Abschnitt 1.
(A) Tom ist größer als Tim.
In (A) wird behauptet, dass Tom die Eigenschaft hat, größer als Tim zu sein. Diese Eigenschaft besitzt Tom nur insofern es auch Tim gibt. Es ist eine relationale Eigenschaft im oben definierten philosophischen Sinne, nach der ein Objekt eine relationale Eigenschaft nur abhängig davon hat, dass es in Begleitung anderer Objekte auftritt.[16] Wenn Vertreter des moderaten OSR von Relationen sprechen, dann, so ist mein Eindruck, haben sie häufig relationale Eigenschaften in diesem philosophischen Sinne im Kopf. Wenn man Relationen in diesem Sinne versteht, dann ist es eine analytische Wahrheit, dass sie nicht ohne Relata auftreten können. Das heißt, dann kann es Relationen ohne Relata qua definitionem nicht geben. Mithin ist das nur eine Sache der Begriffsdefinition.
[16] siehe für philosophische Definitionen in diesem Sinne Vallentyne (1997); Langton und Lewis (1998) sowie Lewis (2001).
Wenn dagegen Befürworter des radikalen OSR von Relationen sprechen, verstehen sie Relationen oft mehr in einem physikalischen Sinne: Sie meinen damit dann etwas, das unabhängig von raumzeitlichen Abständen existiert, das nicht in klar abgrenzbaren Raumzeitgebieten lokalisiert ist oder Ähnliches. Nichts schließt aus, dass Relationen in diesem Sinne ontologische Priorität gegenüber lokalisierten Relata zukommt. Nach meiner persönlichen Einschätzung lässt sich ein Großteil der Kontroverse zwischen moderatem und radikalem OSR darauf zurückführen, dass diese beiden Relationsbegriffe durcheinandergebracht werden. So oder so ist die entscheidende Frage aber, wie L&R die grundlegende Idee des OSR begründen und wie überzeugend diese Begründung ist. Um dies zu verstehen, müssen wir uns noch mit einer anderen Debatte vertraut machen.
Man kann verschränkte Ganze wie ein Ganzes im Singulett-Zustand ontologisch grundsätzlich auf zwei verschiedene Weisen interpretieren: Entweder man nimmt an, dass sie Teile haben oder nicht. Wenn man die erste Option wählt, kann man weiterhin zwischen Systemen und Individuen unterscheiden: Etwas ist ein physikalisches System genau dann, wenn ihm physikalische Eigenschaften zukommen. Einzelne physikalische Systeme liegen genau dann vor, wenn es eine definite Anzahl solcher Systeme gibt. Die Teilsysteme (Elektronen) im Singulett-Zustand sind offensichtlich physikalische Systeme, denn es gibt zwei und damit eine definite numerische Anzahl solcher Teilsysteme.
Und wann sind physikalische Systeme Individuen? Hier gibt es generell mehrere Möglichkeiten. Eine erste Möglichkeit besteht darin zu sagen, dass ein physikalisches System genau dann ein Individuum ist, wenn es mindestens eine Eigenschaft besitzt, durch das es sich von allen anderen physikalischen Systemen unterscheidet. Diese Möglichkeit liegt vor allem dann nahe, wenn man eine Bündelontologie vertritt, nach dem ein Systeme (seine Identität) nichts mehr ist als ein Bündel seiner Eigenschaften. Wenn man Individualität in diesem Sinne versteht, dann sind verschränkte Systeme derselben Art (etwa zwei Elektronen) offenbar keine Individuen. Denn einerseits unterscheiden sie sich nicht durch ihre zeitunabhängigen Eigenschaften wie Masse und Ladung. Beispielsweise haben alle Elektronen die gleiche Ladung (-1e) und die gleiche Ruhemasse (0,51 MeV). Andererseits unterscheiden sie sich aber auch nicht durch ihre zeitabhängigen Eigenschaften wie den Spin. Beispielweise besitzen die beiden Teilsysteme im Singulett-Zustand keine Spin-Eigenschaften unabhängig voneinander.[17]
[17] French und Redhead (1998).
Eine zweite Möglichkeit ist es zu vertreten, dass eine Eigenschaft immer eine Eigenschaft von etwas ist. Dieses etwas ist das System bzw. der Träger dieser Eigenschaft, das selbst eigenschaftslos ist. Diese Auffassung, nach der Systeme "nackte" Träger von Eigenschaften sind, ist als Substratontologie bekannt. Wenn man eine Substratontologie vertritt, dann kann man behaupten, dass verschränkte Systeme derselben Art sehr wohl Individuen sind. Denn sie unterscheiden sich zwar nicht hinsichtlich ihrer Eigenschaften, ihre jeweilige Identität ist aber etwas über diese Eigenschaften hinaus. Steven French hat deshalb argumentiert, dass die Quantenphysik sowohl mit der Annahme verträglich ist, dass mikrophysikalische Systeme Individuen sind (etwa vor dem Hintergrund einer Substratontologie) als auch mit der gegenteiligen, dass sie keine Individuen sind (nämlich vor dem Hintergrund einer Bündelontologie).[18]
[18] French (1989, 1998).
French und Ladyman argumentieren weiter, dass diese Form der metaphysischen Unterbestimmtheit die Position des OSR stützt.[10] Ladyman und Ross übernehmen dieses Argument in "Everything must go".[20] Es lässt sich wie folgt rekonstruieren:[21]
[20] Ladyman und Ross (2007), Kapitel 3.
[21] Ainsworth (2010).
(P1)
Wenn man die Ontologie der Quantenphysik als eine Ontologie von Objekten betrachtet, dann bleibt durch diese Theorie unterbestimmt, ob diese Objekte Individuen sind oder nicht.
(P2) Wenn man die Ontologie der Quantenphysik als eine Ontologie von Relationen (OSR) betrachtet, dann stellt sich die Frage nach Individualität und in Folge auch der Fall von
Unterbestimmtheit erst gar nicht.
(P3) Wenn wir zwei konkurrierende ontologische Annahmen haben, sollten wir uns auf die verpflichten, die Fälle von Unterbestimmtheit vermeidet.
(C) Wir sollten uns auf die Ontologie der Quantenphysik als eine Ontologie von Relationen (OSR) verpflichten.
In der Literatur wurden vor allem die Prämissen (P1) und (P2) des Argumentes kritisiert. Ich möchte mich daher auf (P3) fokussieren. Sehen wir uns zunächst ein simples Beispiel an. Nehmen wir an, ich werde Zeuge eines Banküberfalls und die Polizei bittet mich, den Räuber zu beschreiben. Ich sage: "Er hatte eine schwarze Jacke an, war etwa 1,60m groß und ich erinnere mich nicht mehr an seine Haarfarbe oder ob er überhaupt Haare auf dem Kopf hatte." Der Ermittlungsbeamte sagt daraufhin: "Wenn ich davon ausgehe, dass der Täter Haare auf dem Kopf hat, dann bleibt durch Ihre Beschreibung unterbestimmt, welche Farbe diese Haare haben. Also bin ich davon überzeugt, dass der Täter glatzköpfig war." Das wäre eine absurde Konklusion! Denn die epistemische Tatsache, dass wenn der Täter Haare auf dem Kopf hat, meine Beschreibung unterbestimmt lässt, was für eine Farbe diese Haare haben, macht nicht die ontologische Hypothese wahr oder auch nur wahrscheinlicher wahr, dass der Täter glatzköpfig ist.
Analoges gilt für die Quantenphysik. Angenommen (P1) und (P2) sind wahr. Dann folgt daraus noch lange nicht die Conclusio (C). Denn die epistemischen Tatsache, dass wenn man die Ontologie der Quantenphysik als eine Ontologie von Objekten betrachtet, die Quantenphysik unterbestimmt lässt, ob diese Objekte Individuen sind oder nicht, macht nicht die ontologische Hypothese wahr oder auch nur wahrscheinlicher wahr, dass die Ontologie der Quantenphysik keine Ontologie von Objekten sondern stattdessen eine von Relationen ist. Natürlich kann es in beiden Fällen unabhängige Indizien für die Wahrheit dieser Annahmen geben. Wenn der Räuber beispielsweise eine Glatzenpoliturcreme am Tatort liegen lassen hat, dann ist die beste Erklärung dafür vielleicht, dass er eine Glatze hat. Ähnliches mag auch für die Quantenphysik und den OSR gelten. Der entscheidende Punkt ist dieser hier: Die Wahrheit oder wahrscheinliche Wahrheit des OSR ergibt sich nicht (wie Ladyman, French und Ross implizieren) direkt aus Unterbestimmtheitsfällen. Unterbestimmtheit ist vielmehr der Anfang von sorgfältiger metaphysischer Argumentation! Hier knüpft mein eigenes Verständnis von naturalisierter Metaphysik an.
An dieser Stelle möchte ich noch ein paar eigene Gedanken zur naturalisierten Metaphysik anbringen. Diese Gedanken können als eine Synthese aus dem ersten und zweiten Abschnitt dieser Rezension verstanden werden. Der erste Abschnitt endete mit der Feststellung, dass die naturalisierte Metaphysik, wenn wir dem Verständnis von L&R folgen, vor einem Dilemma steht: Einerseits sollte sie in den Naturwissenschaften verankert sein (Problem der analytischen Metaphysik), andererseits aber nicht durch diese eliminiert werden (Problem der naturalisierten Metaphysik nach L&R). Wie kann die naturalisierte Metaphysik dem genannten Dilemma entrinnen? Ich behaupte, dass das Phänomen der Unterbestimmtheit zentral zur Beantwortung dieser Frage ist. Es kann dabei zunächst zwischen zwei Ebenen der Unterbestimmtheit unterschieden werden:
1. Unterbestimmtheit erster Ebene: Die Unterbestimmtheit des Wahrheitsgehalts
wissenschaftlicher Theorien durch die empirische Evidenz.
2. Unterbestimmtheit zweiter Ebene: Die Unterbestimmtheit des Wahrheitsgehalts metaphysischer Theorien durch wissenschaftliche Theorien.
Kommen wir zur Quantenphysik zurück. Die Quantenphysik ist von Unterbestimmtheit auf beiden Ebenen besonders betroffen. Dass sie von Unterbestimmtheit auf der ersten Ebene betroffen ist, zeigt sich daran, dass die Quantenphysik keine wissenschaftliche Theorie im eigentlichen Sinne darstellt. Es braucht erst eine ontologische Interpretation des mathematischen Formalismus der Quantenphysik, um aus dieser eine wissenschaftliche Theorie zu machen. Und dass die Quantenphysik von Unterbestimmtheit auf der zweiten Ebene betroffen ist, zeigt sich daran, dass wenn feststeht, dass eine Interpretation der Quantenphysik zutreffend ist, dadurch nicht auch feststeht, wie die Welt auf mikrophysikalischer Ebene metaphysisch beschaffen ist.
Die Erfahrungswissenschaften haben mit Unterbestimmtheit auf der ersten Ebene zu kämpfen. Die Quantenphysik zum Beispiel muss eine wissenschaftliche Theorie der Mikrowelt entwerfen, welche das zentrale Messproblem löst. Dabei gibt es mehrere solcher Interpretationen, welche alle mit unseren bisherigen experimentellen Ergebnissen übereinstimmen. Das heißt die empirische Evidenz alleine legt uns nicht auf die eine oder andere Interpretation fest. Die naturalisierte Metaphysik hingegen hat mit der Unterbestimmtheit auf der zweiten Ebene zu kämpfen.[22] Selbst wenn wir (wie L&R) z.B. davon ausgehen, dass die Viele-Welten-Interpretation zutreffend ist, bleibt dadurch unterbestimmt, wie die Welt auf mikrophysikalischer Ebene metaphysisch beschaffen ist.
[22] Humphreys (2013).
Eine Möglichkeit ist es metaphysisch einen Wellenfunktions-Realismus zu vertreten. Das heißt man vertritt, dass es auf einer fundamentalen Ebene die Wellenfunktion als ein physikalisches Objekt in einem höherdimensionalen Raum gibt. Eine andere Möglichkeit ist es L&R zu folgen und metaphysisch einen OSR zu vertreten. Für den OSR hätten L&R etwa wie folgt argumentieren können: Die Beschreibung des Singulett-Zustandes:
|Ψ-⟩ = 1 / √2 * (|↑z⟩1 |↓z⟩2 - |↓z⟩1 |↑z⟩2).
beinhaltet u.a. Folgendes: Das erste System kann den definiten numerischen Spinwert |↑z⟩1 abhängig davon erwerben, dass das zweite System den definiten numerischen Spinwert |↓z⟩2 erwirbt (und umgekehrt). Und das zweite System kann den definiten numerischen Spinwert |↑z⟩2 abhängig davon erwerben, dass das erste System den Spinwert |↑z⟩1 erwirbt (und umgekehrt). Es sind also nur bestimmte Korrelationen zwischen definiten Eigenschaftswerten möglich. Anders ausgedrückt hat jedes der beiden Systeme die Eigenschaft bestimmte definite Eigenschaftswerte zu erwerben in Abhängigkeit zu dem anderen System. Damit erfüllt diese Eigenschaft die philosophische Definition einer relationalen Eigenschaft. Man kann also argumentieren, dass einige der Eigenschaften der Systeme relationale Eigenschaften zwischen diesen sind und des-halb der OSR eine überzeugende naturalisierte Metaphysik in Bezug auf die Mikrowelt ist.
Der entscheidende Punkt ist, wie gesagt, dieser: Diese Schlussfolgerung ergibt sich keinesfalls aus einer Unterbestimmtheit auf der zweiten Ebene. Stattdessen schafft Unterbestimmtheit auf der zweiten Ebene erst die Bedingungen der Möglichkeit von naturwissenschaftlich informierten, metaphysischen Argumenten und damit für naturalisierte Metaphysik. Die Unterbestimmtheit auf der ersten Ebene unterminiert diese Möglichkeit hingegen. Präziser ausgedrückt: Die Metaphysik befasst sich ihrem klassischen Selbstanspruch nach mit dem jenseits oder hinter der empirisch erfahrbaren Welt liegenden Entitäten und Gesetzmäßigkeiten. Die naturalisierte Metaphysik konsultiert dabei unsere reifsten wissenschaftlichen Theorien. Das macht nur einen Sinn, wenn diese Theorien wahr oder annähernd sind und uns also einen epistemischen Zugang zu den hinter der erfahrbaren Welt liegenden Entitäten und Gesetze verschaffen.
Eine Möglichkeit dem Problem der Unterbestimmtheit zu begegnen sind Schlüsse auf die beste Erklärung. In der Tat sind Schlüsse auf die beste Erklärung sowohl in den Einzelwissenschaften als auch in der naturalisierten Metaphysik weit verbreitet. Nach meinem Verständnis gibt es daher auch keine klare Trennung zwischen den Einzelwissenschaften und naturalisierter Metaphysik. Der Philosoph Anjan Chakravarrty macht dies an vielen Beispielen deutlich (eines ist das der Gentranskription).[23] Nach Chakravarrty lassen sich wissenschaftliche Ergebnisse gar nicht ohne metaphysische Erwägungen (etwa zu einer Ding-Eigenschafts-Ontologie) in wissenschaftlichen Theorien formulieren. Zudem ergeben sich, aufgrund von Unterbestimmtheit auf der zweiten Ebene und anders als L&R dies annehmen, metaphysische Konsequenzen nicht einfach direkt aus den Einzelwissenschaften. Chakravarrty weist hier darauf hin, dass die Quantenfeldtheorie mit Platons Universalienlehre logisch verträglich ist. Van Fraassen schreibt an anderer Stelle ebenfalls völlig richtig, dass der Substanzdualismus durch die neurowissenschaftliche Forschung nicht widerlegt wird.[24] Aber es lässt sich argumentieren, dass andere Ansätze bessere Erklärungen für die empirischen Ergebnisse aus den Neurowissenschaften liefern. In dieser aufgrund von Unterbestimmtheit bestehenden Lücke kann wissenschaftliche und naturalistisch-metaphysische Theorienbildung stattfinden.
[23] Chakravartty (2013).
[24] Van Fraassen (1996).
Kommen wir am Ende noch auf den meiner Meinung nach größten Philosophen des 20. Jahrhunderts zu sprechen. Willard Van Orman Quine hat gezeigt, dass keine klare Trennlinie zwischen analytischen und synthetischen Sätzen gezogen werden kann.[25] Damit gibt es aber auch keine klare Trennlinie zwischen analytisch-metaphysischen Theorien und empirisch-wissenschaftlichen Theorien. Huw Price, Alyssa Ney und andere Autoren[26] haben argumentiert, dass Quine nicht etwa den Wissensanspruch von metaphysischen Theorien auf-, sondern den von wissenschaftlichen Theorien abwerten wollte. Beide haben mit Unterbestimmtheit zu kämpfen und beide sind daher fallibel. Von Quine können wir daher lernen, dass wissenschaftliche und metaphysische Aussagen Teil eines Spektrums und der Übergang vom einem zum anderen fließend ist. Auf der einen Seite des Spektrums stehen beobachtungsnahe Aussagen von Experimental-wissenschaftlern und auf der anderen Seite stehen theorienahe Aussagen von analytischen Metaphysikern wie Lewis oder Jackson. Keine dieser Aussagen sind dabei rein synthetisch oder rein analytisch.
[25] Price 2009; Ney (2012), S. 58 nennt weitere Autoren.
Irgendwo zwischen diesen beiden Extremen ist die naturalisierte Metaphysik angesiedelt und kann eine wichtige Vermittlerrolle spielen. Um beispielsweise über den OSR in Bezug auf die Quantenphysik diskutieren zu können, braucht man nicht nur eine gute physikalische Ausbildung, sondern auch eine gute philosophische Ausbildung. Analytische Metaphysiker können dabei eine unheimlich konstruktive Rolle spielen. Beispielsweise sind analytische Metaphysiker sehr geschult und geübt darin, präzise zu argumentieren und Begriffsdefinitionen auseinanderzuhalten. Beides kann in der Diskussion von naturwissenschaftsnahen Theorien hilfreich sein und Missverständnisse vermeiden (Vergleiche die Diskussionen in den Abschnitten 2.2. und 2.3.). Ich stimme L&R also zwar zu, dass in der analytischen Metaphysik einiges falsch oder ins Leere läuft. Aber es ist, anders als L&R das insinuieren, sicher nicht alles! Und ich bin skeptisch gegenüber ihrem Versuch "sinnvolle" und "sinnlose" Metaphysik durch ein Prinzip wie (PNG) zu trennen. Denn auch dies hat die Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts gezeigt: Strikte Sinn- und Unterscheidungskriterien wirken prima facie häufig sehr attraktiv, erweisen sich dann bei genauerer Analyse aber oftmals als unhaltbar.[27]
[27] Analoges gilt dann auch für meine eigene Unterscheidung zwischen Unterbestimmtheit auf erster und zweiter Ebene. Diese ist (wie die erwähnte synthetisch-analytisch-Unterscheidung) zwar hilfreich, aber theoretisch und praktisch nicht bis zum Ende aufrechterhaltbar.
Analoges gilt dann auch für meine eigene Unterscheidung zwischen Unterbestimmtheit auf erster und zweiter Ebene. Diese ist (wie die erwähnte synthetisch-analytisch-Unterscheidung) zwar hilfreich, aber theoretisch und praktisch nicht bis zum Ende aufrechterhaltbar. Der Grund dafür ist der Bestätigungsholismus?:
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