Der Eliminative Materialismus (kurz: Eliminativismus) behauptet, dass es keine mentalen Zustände gibt.
Die bisherige Entwicklung des Eliminativen Materialismus lief in zwei Phasen ab:
1. Die Entstehungsphase ist eng mit den wissenschaftshistorischen Betrachtungen in der Wissenschaftstheorie durch v.a. Thomas S. Kuhn und Paul Feyerabend verknüpft. Ein Ergebnis dieser Betrachtungen war die Erkenntnis, dass sich der wissenschaftliche Fortschritt oftmals nicht wie im Positivismus angenommen durch Reduktion vollzieht. Stattdessen werden alte Theorien einfach durch neue ersetzt. Beispiele sind die Aufgabe des geozentrischen Weltbildes, der Phlogiston-Theorie, des Vitalismus oder des Hexenglaubens. Die These der eliminativen Materialisten ist nun, dass sich die alltägliche Theorie von mentalen Zuständen in gleicher Weise als falsch erweisen kann und wird. Sie sei von veralteten cartesianischen Vorurteilen und einer mangelhaften Alltagspsychologie geprägt und vollkommen inkompatibel mit den Erkenntnissen der modernen Hirnforschung.
2. Die Entwicklungsphase ist maßgeblich von den Arbeiten von Stephen Stich und Paul und Patricia Churchland geprägt und reicht bis in die Gegenwart hinein (siehe z.B. Daniel Dennett über Qualia). Stich und das Ehepaar Churchland gründeten den eliminativen Ansatz erstmals auf neuro- und kognitionswissenschaftliche Ergebnisse. Gegen die Existenz von Qualia im Speziellen wird mit der Möglichkeit intervenierender Qualia argumentiert.
„Eliminativer Materialismus ist die These, dass unsere
alltägliche Theorie psychologischer Phänomene radikal falsch ist – eine Theorie, die so fundamentale Defekte aufweist, dass sich ihre Prinzipien und ihre Ontologie nicht reibungslos auf eine
vollständige Neurowissenschaft reduzieren lassen werden. Die Neurowissenschaft wird die Alltagspsychologie daher schließlich verdrängen.“
- Paul Churchland: Eliminative Materialism and the Propositional Attitudes, S. 67
Ausgangspunkt aller eliminativen Positionen ist die These, dass es sich bei unseren allgemeinen Annahmen über mentale Zuständen um eine Theorie handelt, die - wie jede andere Theorie auch - grundsätzlich falsifizierbar ist. Diese Theorie wird in der Literatur allgemein Alltagspsychologie oder folk psychology genannt.
Insbesondere die Churchlands haben verschiedene Argumente entwickelt, die zeigen sollen, dass die Alltagspsychologie eine falsche Theorie ist. So argumentieren sie, dass durch die Alltagspsychologie viele Phänomene nicht erklärbar seien, die von den modernen Neurowissenschaften sehr wohl erklärt werden könnten. Beispiele seien Geisteskrankheiten, Lernprozesse oder Gedächtnisfähigkeiten.
Zudem habe sich die Alltagspsychologie in den letzten 2500 Jahren nicht substantiell fortentwickelt und sei damit eine seit Jahrtausenden weitestgehend stagnierende Theorie. Schließlich hätten schon die alten Griechen eine Alltagspsychologie auf vergleichbarem Niveau gehabt. Demgegenüber seien die Neurowissenschaften ein sich rasant entwickelnder Wissenschaftskomplex, der schon jetzt viele kognitive Fähigkeiten erklären könne, zu denen die Alltagspsychologie keinen Zugang habe. Und da sich die Alltagspsychologie nicht auf die modernen Naturwissenschaften zurückführen ließe, wird sie früher oder später durch diese ersetzt werden.
Im Grunde ist nach Ansicht der Churchlands die Alltagspsychologie sogar seit den ersten Wissenschaftsentwicklungen auf dem Rückzug: In den frühesten Gesellschaften versuchte man noch alle Naturphänomene mit der Zuschreibung von mentalen Zuständen zu erklären: Das Meer war zornig, die Sonne müde. Nach und nach wurden diese alltagspsychologischen Erklärungen durch leistungsfähigere, naturwissenschaftliche Beschreibungen ersetzt. Es gibt nun keinen Grund, vor unserem Gehirn Halt zu machen und nicht auch eine leistungsfähigere, naturwissenschaftliche Beschreibung kognitiver Fähigkeiten zu akzeptieren. Wenn wir eine solche Erklärung hätten, brauchten wir eine alltagspsychologische Erklärung des Verhaltens genauso wenig wie eine entsprechende Erklärung des Meeresverhaltens. Beides repräsentiere atavistisches Denken.
Gegen das Theorienargument werden von Kritikern zwei Arten von Einwänden vorgebracht. Erstens wird argumentiert, dass die Alltagspsychologie eine durchaus erfolgreiche Theorie sei. Jerry Fodor gehört zu den Philosophen, die nachdrücklich auf die Erfolge der Alltagspsychologie hingewiesen haben (Jerry Fodor: Psychosemantics: The Problem of Meaning in the Philosophy of Mind). Sie ermögliche in einer sehr effektiven Weise die Kommunikation im Alltag; Verabredungen, Planungen usw. könnten etwa mit wenigen Worten ausgeführt werden. Eine solche Effektivität könne mit einer komplexen neurowissenschaftlichen Terminologie nie erreicht werden.
Zusammenfassung: Die Alltagspsychologie ist eine falsifizierbare Theorie. Sie stagniert seit 2500 Jahren und kann viele Phänomene nicht erklären. Die sich rasant entwickelnde Neurowissenschaft kann die meisten dieser Phänomene bereits jetzt erklären und wird die Alltagspsychologie einmal komplett ersetzten. Wenn die Alltagspsychologie erst einmal genauso wie der Hexenglauben falsifiziert ist, wird sich herausstellen, dass sich unser gesamtes mentales Vokabular genauso wie der Begriff "Verhexung" auf nichts in der Realität bezieht.
Zweitens wird bezweifelt, dass sich das alltägliche Verständnis des Mentalen überhaupt als (eine solche) Theorie begreifen lasse. Ein anderes Argument der Churchlands lautete, dass die Alltagspsychologie Phänomene wie Geisteskrankheiten oder viele Gedächtnisprozesse nicht erklären könne. Diesem Argument wird von Kritikern entgegengesetzt, dass es gar nicht die Aufgabe der Alltagspsychologie sei, diese Phänomene zu erklären. Es sei daher eine Themenverwechslung, wenn man sie wegen dieser "Mängel" kritisiere.
Die These des eliminativen Materialismus scheint vielen Kritikern so offensichtlich falsch zu sein, dass sich jede weitere Argumentation erübrige. Man müsse sich nur ehrlich selbst befragen, um zu wissen, dass man mentale Zustände wie Gedanken, Gefühle und Erinnerungen habe.
Eliminative Materialisten wenden gegen eine solche Ablehnung ein, dass Intuitionen sehr oft zu ganz falschen Bildern der Wirklichkeit geführt haben. Aus der Alltagsperspektive mag es offensichtlich erschienen sein, dass sich die Sonne über den Himmel um die Erde dreht. Doch trotz all dieser vermeintlichen Offensichtlichkeit hat sich das geozentrische Weltbild als falsch erwiesen. Genauso könnte es sich die heute noch als offensichtlich geltende Alltagspsychologie einmal als falsch herausstellen.
Der Einwand, eine Theorie sei inkohärent, ist einer der stärksten, die man überhaupt gegen eine Theorie erheben kann:
(P1) Der Eliminativist behauptet, dass es keine mentalen Zustände gibt.
(P2) Dafür muss er voraussetzen, dass seine Behauptung Bedeutung hat, begründet und wahr ist.
(P3) Die Begriffe "Bedeutung", "Rechtfertigung" und "Wahrheit" sind nur in Bezug auf intentionale, d.h. mentale Zustände verständlich. Eine Behauptung ist dann wahr, wenn der Inhalt meiner Überzeugung mit der Realität übereinstimmt, und sie ist dann gerechtfertigt, wenn es für den
Inhalt meiner Überzeugung gute Gründe gibt. Wenn es in der Welt keine Überzeugungen, sondern nur neuronales Geschehen gäbe, so könnte (P1) also nicht semantisch, wahr oder gerechtfertigt
sein.
(K1) Der Eliminativist spricht seiner These Bedeutung zu und hält sie für wahr und begründet (P2). Dafür muss er implizit voraussetzen (P3), was er explizit
bestreitet (P1) – die Existenz von mentalen Zuständen.
(K2) reductio ad absurdum: Der
Eliminativismus beinhaltet einen performativen Selbstwiderspruch
(K1) und ist deshalb unwahr.
Die Schwachstelle dieses Argumentes ist die Prämisse (P3). Keiner muss von (P1) überzeugt sein und gerade in manchen Kohärenztheorien werden die Begriffe Bedeutung, Rechtfertigung und Wahrheit beispielsweise ganz ohne intentionale Zustände erörtert. Der Eliminativist kann auch argumentieren, dass bedeutungsvolle Zustände auch in der Sprache von Maschinen vorkommen, ohne dass man ihnen mentale Zustände zuschreibt. Trotzdem muss der Eliminativist klären, weshalb er (P1) äußert, ohne von ihr überzeugt zu sein, und inwiefern er dann überhaupt noch Eliminativist sein kann.
Der Begriff "Qualia" bezeichnet den phänomenologischen Teilaspekt von mentalen Zuständen. Da der Eliminativist die Existenz von mentalen Zuständen bestreitet, muss er also auch die Existenz von Qualia bestreiten (Qualiaeliminativismus). Laut Daniel Dennett beruht der Qualiabegriff beispielsweise auf cartesianischen Intuitionen und entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als widersprüchlich und gehaltslos. Aber auch wenn unser derzeitiger Qualiabegriff inkorrekt ist, heißt das noch nicht, dass es Qualia nicht gibt.
Für die Existenz von Qualia kann so argumentiert werden: Man gibt einem Mann mit verbundenen Augen einen Löffel Zucker und dann einen Löffel Salz zu essen. Das, was sich für den Mann verändert hat, war der qualitative Aspekt seines Geschmackserlebnisses. Wenn man mit einem Eliminativisten diesen Versuch macht, müsste er rundheraus bestreiten, dass sich für ihn etwas ändert. Er kann auch nicht argumentieren, dass er den Unterschied an der unterschiedlichen Konsistenz der Stoffe gespürt oder vielleicht durch die Augenbinde hindurch gesehen hat, denn das läuft alles darauf hinaus, dass es für ihn irgendwie war, den Unterschied festzustellen.
Der Eliminative Materialismus bestreitet nicht nur die Existenz nichtphysischer, mentaler Zuständen oder die Reduzierbarkeit des Mentalen auf das Physische, sondern beides, d.h. die Existenz mentaler Zustände per se. Was wäre, wenn der Eliminative Materialismus wahr wäre? Lynne Rudder Baker ist dieser Frage akribisch nachgegangen:
1. Der soziale Umgang unter Menschen, der auf Intentionalität beruht, wäre völlig unverständlich. Nehmen wir an, jemand sagt "Ich werde dich morgen um 10 Uhr besuchen kommen." Welche Beziehung besteht zwischen dieser Aussage und seinem Erscheinen zu besagter Zeit, wenn er keine Überzeugungen oder Absichten hat? Was berechtigt mich, aufgrund dieser Äußerung sein tatsächliches Kommen zu erwarten, und wie kann ich überhaupt etwas erwarten?
2. Die moralischen und rechtsstaatlichen Urteile, die auf intentionalen Zuständen beruhen, wären gegenstandslos. Der Utilitarismus wäre gegenstandslos, weil es kein Glück gäbe, der Kantianismus wäre gegenstandslos, weil ich nichts wollen könnte, und der Aristotelismus wäre gegenstandslos, weil niemand Tugenden hätte. Wenn es keine Überzeugungen oder Absichten gäbe, wären aber auch die juristischen Fachtermini "Notwehr" oder "niedere Absicht" gegenstandslos. Ebenso gäbe es keinen Unterschied mehr zwischen einem unwillentlichem Totschlag oder Sagen einer Unwahrheit und dem bewussten Lügen oder Morden. Nahezu alles, was wir über Moral und Rechtsstaatlichkeit zu wissen glauben, wäre haltlos.
3. Die Existenz von Sprechakten und vielen weiteren Äußerungen wären völlig rätselhaft. Warum versuchen wir mit unseren Äußerungen Handlungen zu vollziehen, wenn nicht aufgrund von Gründen oder Überzeugungen? Wenn der Eliminative Materialismus wahr wäre, wären alle Äußerungen, die sich auf mentale Zustände beziehen ("ich liebe dich", "ich will dich heiraten", "Ich handle so, weil …") falsch. Selbst die Äußerung "ich glaube, dass sich keine Äußerung auf mentale Zustände bezieht", wäre falsch. Niemals würde jemand aufgrund von Überzeugungen, Gründen oder höherstufigen Wünschen handeln. Die gesamte Rede von Personen oder einem "Ich" würde schwierig werden.
4. Die Humanwissenschaften wie Psychologie, Sozialwissenschaften oder Ökonomie wären vor großen Herausforderungen gestellt. Die meisten Bereiche der angewandten Psychologie - von der Marktforschung bis zur Psychotherapie - wären auf Sand gebaut. Es würde sich die Fragen stellen, wie Psychologie noch betrieben werden kann und wozu man sie überhaupt noch braucht. Ähnliches gilt für weite Bereiche der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Denn welchen Sinn sollten Modelle haben, die voraussetzen, dass Personen eine bestimmte Präferenzstruktur haben, und die ihre Legitimation aus dem Ziel eines besseren Verständnisses oder einer Nutzenmaximierung ziehen? Selbst die Explananda dieser Wissenschaften gerät in Gefahr, insofern es sich bei ihr (nach Ende des Hypes um den Behaviorismus) um Handlungen und nicht einfach nur um Körperbewegungen handelt. Der Unterschied zwischen Handlungen und Körperbewegungen lässt sich aber überhaupt nur unter Rückgriff auf intentionale Zustände erklären.
„… wenn unsere Alltagspsychologie zusammenbrechen würde, wäre dies die unvergleich größte Katastrophe in der Geschichte unserer Gattung.“
- Jerry Fodor
Stand: 2018
Philoclopedia (Sonntag, 12 April 2020 16:44)
https://www.youtube.com/watch?v=vzT0jHJdq7Q
WissensWert (Montag, 30 Juli 2018 00:41)
Die Wirklichkeit eines Gedankens deshalb zu bestreiten, weil sich der Gedanke klassischer Objektivierbarkeit entzieht, erinnert an den Botaniker, der, nachdem er eine ihm unbekannte Pflanze aufgelesen hat, diese zu benennen und in sein Herbarium einzuordnen sucht, doch in sämtlichen Büchern und Hightech-Archiven keinen passenden Namen erhält. Zuletzt zweifelt er, das die vor ihm liegende Pflanze überhaupt existiert. Nicht weit davon entfernt scheint jener "Botaniker des Geistes", der die Psyche des Menschen - besonders den Gedanken - mit ähnlich skeptischen Gedanken gegenübersteht. Er bezweifelt die Wirklichkeit sprachlich formulierter Gedanken sogar im eigenen Bewusstsein, weil er in den Hauptstromarchiven der Wissenschaft keine Anleitung erhält, wie der Gedanke an sich, als nur ihm gehörender privater, innerer Besitz, endlich auch von außen, objektiv zu fassen ist.