Fremdpsychisches

Der Begriff des Fremdpsychischen ist in sozialphilosophischen Kontexten, in der Erkenntnistheorie sowie in der Philosophie des Geistes gebräuchlich. Max Scheler verwendete den Begriff zur Kennzeichnung der Erlebnisse Anderer, die man nach seiner Auffassung unmittelbar am Gesicht ablesen kann.[1]

 

Insbesondere im Wiener Kreis wurde die Ansicht vertreten, dass das Fremdpsychische nicht Gegenstand empirischer Wissenschaften sein könne, weil die Erlebnisse eines anderen Individuums nicht unmittelbar wahrgenommen und deshalb nicht verifiziert werden können.[2] Zu den Implikationen des
erkenntnistheoretischen Solipsismus gehört die prinzipielle Unerkennbarkeit des Fremdpsychischen; der ontologische Solipsismus bestreitet sogar dessen
Existenz.

 

In der Philosophie des Geistes wird die Frage nach dem Bewusstsein Anderer insbesondere als Qualiaproblem und als Intentionalitätsproblem diskutiert. Ein wesentlicher Anstoß hierzu stammt von Thomas Nagel, der die Frage diskutierte, wie es sich wohl anfühlen würde, wie eine Fledermaus zu fühlen.[3] Mit diesem Aufsatz wendete er sich gegen reduktionistische Positionen innerhalb der Neurowissenschaften, weil man aus seiner Sicht anhand des neuronalen Korrelats des Bewusstseins zwar feststellen kann, dass bestimmte Gefühle wie Schmerz vorhanden sind, aber nicht, wie sich dieser Schmerz bei einer dritten Person anfühlt. Ein Zugang zum eigenen Bewusstsein besteht nur aus der Erste-Person-Perspektive.[4]

1. Das qualitative Spektrum mentaler Zustände

In einer bahnbrechenden Studie untersuchten Joseph Henrich, Steven J. Heine und Ara Norenzayan systematisch sämtliche Aufsätze, die zwischen 2000 und 2007 in führenden wissenschaftlichen Zeitschriften aus sechs verschiedenen Teilgebieten der Psychologie erschienen sind. Dabei kamen sie zu dem Ergebnis, dass die Aufsätze zwar allgemeine Thesen über den menschlichen Geist formulieren, ihre Erkenntnisse aber überwiegend ausschließlich auf WEIRD-Probanden beruhen. So waren beispielsweise in Aufsätzen, die im Journal of Personality and Social Psychology - der vermutlich wichtigsten Zeitschrift im Bereich der Sozialpsychologie - veröffentlicht wurden, 96 Prozent der untersuchten Personen WEIRD und 68 Prozent Amerikaner. Überdies waren 67 Prozent dieser amerikanischen Testpersonen und 80 Prozent der nicht-amerikanischen Probanden Psychologiestudenten! Mit anderen Worten: Mehr als zwei Drittel der Personen, die für Aufsätze in dieser renommierten Zeitschrift untersucht wurden, waren Psychologiestudenten an westlichen Universitäten. Halb im Scherz schlugen Heinrich, Heine und Norenzayan deshalb vor, die Zeitschrift sollte sich doch in The Journal of Personality and Social Psychology of American Psychology Students umbenennen.

Psychologiestudenten tauchen vor allem deshalb in vielen Untersuchungen auf, weil ihre Professoren sie verpflichten, an Experimenten teilzunehmen. Wenn ich Psychologieprofessor in New York University bin, ist es für mich viel leichter, Versuche mit meinen eigenen Studenten als mit den Bewohnern irgendeines kriminalitätsgeplagten Problemviertels wie der Bronx durchzuführen - ganz zu schweigen von einer Reise nach Namibia, um dort Jäger und Sammler in der Kalahari-Wüste zu erforschen. Es ist jedoch gut möglich, dass die Bewohner des Problemviertels in New York und die Jäger und Sammler in der Kalahari mentale Zustände erleben, auf die wir niemals stoßen werden, wenn wir Psychologiestudenten aus Harvard dazu zwingen, seitenlange Fragebögen auszufüllen oder ihren Kopf in fMRT-Scanner zu stecken.

Selbst wenn wir die ganze Erde bereisen und jede einzelne Gemeinschaft untersuchen, werden wir immer nur einen begrenzten Teil des geistigen Erlebnisspektrums des Menschen abdecken. Heutzutage sind fast alle Menschen mit der Moderne in Berührung gekommen, und wir gehören alle zu einem einzigen globalen Dorf. Zwar sind die Wildbeuter der Kalahari etwas weniger modern als Psychologiestudenten in Harvard, aber sie sind keine Zeitkapsel aus unserer fernen Vergangenheit. Auch sie wurden von christlichen Missionaren, europäischen Händlern, reichen Ökotouristen und neugierigen Anthropologen beeinflusst (ein Witz mutmaßt, dass eine typische Gruppe von Jägern und Sammlern in der Kalahari-Wüste aus 20 Jägern, 20 Sammlern und 50 Anthropologen besteht).

Vor der Entstehung des globalen Dorfes war der Planet eine Galaxie isolierter menschlicher Kulturen, die möglicherweise Geisteszustände erzeugt haben, welche heute ausgestorben sind. Unterschiedliche sozioökonomische Wirklichkeiten und Alltagsroutinen zogen unterschiedliche Bewusstseinszustände nach sich. Wer könnte den Geist von steinzeitlichen Mammutjägern, neolithischen Bauern oder Samurais der Kamakura-Zeit messen? Überdies glaubten viele vormorderne Kulturen an höhere Bewusstseinszustände, zu denen die Menschen mit Hilfe von Meditation, Rauschmitteln oder Ritualen Zugang fanden. Schamanen, Mönche und Asketen erkundeten systematisch die geheimnisvollen Territorien des Geistes und kamen vollbeladen mit atemberaubenden Geschichten zurück. Sie berichteten von unbekannten Zuständen höchster Ruhe, extremer Sinnesschärfe und beispielloser Sensibilität. Sie erzählten davon, wie sich der Geist ins Unendliche weitete oder in das völlige Nichts auflöste.

Viele dieser Meditationstechniken sind uns heute unwiederbringlich verlorengegangen und die Erfahrungen der Menschen rund um den Globus gleichen sich immer mehr an. Der modernen westlichen Kultur fehlt es somit bemerkenswerterweise an einer besonderen Klasse von Menschen, die außergewöhnliche mentale Zustände erleben können und wollen. Jeder, der das tut, ist in den Augen der Gesellschaft ein Spinner, Drogensüchtiger oder Scharlatan. Insofern verfügen wir zwar über eine detaillierte Karte der mentalen Landschaft von Psychologiestundenten aus Hardvard, wissen aber weit weniger über die mentalen Landschaft indianischer Schamanen, buddhistischer Mönche oder sufistischer Mystiker.[5]

Und das ist nur der Geist des Menschen!  Vor 50.000 Jahren teilten wir uns diesen Planeten mit unseren Cousins aus dem Neandertal. Sie schossen keine Raumschiffe ins All, erbauten keine Pyramiden und errichteten keine Imperien. Aber sie verfügten ganz offenkundig über ganz andere geistige Fähigkeiten, während ihnen ganz gleichzeitig viele unsere Talente fehlten. Der Neandertaler hatte ein anderes Gehirn und mehr Neuronen als wir, sein subjektives Welterlebnis war ein ganz anderes als das unsrige.

Doch selbst wenn wir allen menschlichen Arten, die je existierten, berücksichtigen, würde das noch immer nicht einen Bruchteil des gesamten mentalen Spektrums abdecken. Andere Tiere haben vermutlich Erlebnisse, die wir Menschen uns gar nicht vorstellen können, für die unsere Wissenschaft deshalb auch gar keine Größen oder Skalen hat. Fledermäuse orientieren sich in der Welt mittels Echoortung. Sie stoßen einen sehr schnellen Strom von hochfrequenten Schreien aus, die für das menschliche Ohr nicht wahrnehmbar sind. Anschließend nehmen sie die zurückkommenden Echos auf und interpretieren sie, um sich daraus ein Bild von der Welt zu basteln. Dieses Bild ist so detailliert und genau, dass die Fledermäuse rasant zwischen Bäumen und Gebäuden hindurchfliegen können, Motten und Mücken jagen und die ganze Zeit auch noch Eulen und andere Raubtiere entkommen.

Die Fledermäuse erlebt ihre Welt über das Echo. So wie in der menschlichen Welt jedes Objekt eine spezifische Form und Farbe hat, so hat in der Fledermauswelt jedes Objekt sein Echomuster. Eine Fledermaus kann aufgrund der unterschiedlichen Echos, die von deren zarten Flügeln zurückkommen, zwischen einer schmackhaften und einer giftigen Nachtfalterart unterscheiden. Einige essbare Falterarten versuchen sich zu schützen, indem sie ein Echomuster entwickeln, das dem einer giftigen Art ähnelt. Andere Nachtfalter haben die höchst bemerkenswerte Fähigkeit entwickelt, die Wellen des Fledermausradars abzulenken, sodass sie wie Tarnkappenbomber unbemerkt von der Fledermaus umherfliegen. Die Welt der Echoortung ist so komplex und bewegt wie unsere vertraute Welt des Hörens und Sehens, aber wir sind ihr gegenüber völlig blind.

Eine der wichtigsten Aufsätze aus der Philosophie des Geistes trägt den Titel "What is it like to be a bat?" (deutsch: Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?). In diesem Text von 1974 macht uns der Philosoph Thomas Nagel klar, dass der Geist eines Menschen zwar das Gehirn einer Fledermaus sezieren, sich jedoch nicht die subjektive Qualität ihre subjektive Welt vorstellen kann. Wir können noch so viele Algorithmen über den Körper der Fledermaus, über ihre Echoortungssysteme und über Nervenzellen schreiben, aber das wird uns nichts darüber verraten, wie es sich anfühlt, eine Fledermaus zu sein. Wie fühlt es sich an, einen Falter anhand seines Flügelschlags zu orten? Ist es so ähnlich, als würde man ihn sehen, oder ist es völlig anders?

Einem Menschen erklären zu wollen, wie es sich anfühlt, mittels Echo einen Schmetterling zu orten, ist vermutlich genauso aussichtslos, wie wenn man einem blinden Maulwurf vermitteln wollte, wie es sich anfühlt, sich ein Bild von Caravaggio anzustehen. Wir dürfen davon ausgehen, dass die Emotionen einer Fledermaus stark von der zentralen Rolle beeinflusst sind, die ihr Echoortungssinn spielt. Für den Menschen ist Liebe genuin rot, Neid grün und Depression blau. Wer aber weiß, welche Eigenschaft die Echoortung der Liebe einer weiblichen Fledermaus zu ihrem Nachwuchs oder den Gefühlen einer männlichen Fledermaus gegenüber ihren Rivalen verleiht?

Fledermäuse sind natürlich kein Sonderfall. Sie sind nur eines von unzähligen Beispielen. Wie muss es beispielsweise für einen Zugvogel sein, mit Rezeptoren das Magnetfeld der Erde wahrzunehmen? Und wie fühlt es sich an, wie ein Schnabeltier kraft der eigenen Elektrorezeptoren die Entfernung zur Beute bestimmen zu können? Wie ist es für eine Biene, UV-Licht zu sehen, wie für eine Schlange, infrarotes Licht wahrzunehmen? So wie das für uns sichtbare Licht nur den Bruchteil der elektromagnetischen Strahlung umfasst, der im Wellenlängenbereich von etwa 380 nm bis 780 nm liegt, so machen äquivalent dazu unser menschlichen Quale nur einen winzigen Bruchteil des gesamten mentalen Spektrums aus.

Dabei haben andere Lebewesen nicht nur andere Formen der Weltwahrnehmungen, sie riechen, hören und schmecken auch anders als wir. Sowenig wie Menschen wissen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein, so wenig verstehen wir, wie es sich anfühlt, ein Wal, ein Tiger oder ein Pelikan zu sein. Es fühlt sich ohne Zweifel nach etwas an, aber wir wissen nicht, wonach. Sowohl Wale als auch Menschen verarbeiten Emotionen in einer Gehirnregion, die man als das "limbische System" bezeichnet, doch beim Wal enthält diese Funktionseinheit einen ganz ähnlichen Teil, der beim Menschen fehlt. Sorgt dieser Teil möglicherweise dafür, dass Wale extrem tiefe und komplexe Gefühle erleben, die uns fremd sind? Wale können überdies erstaunliche musikalische Erlebnisse haben, die keinem Menschen je zuteilwurden. Sie können sich über Hunderte von Kilometern hören, und jeder Wal verfügt über ein Repertoire an charakteristischen "Gesängen", die Stunden dauern und sehr komplexe Strukturen aufweisen können. Gelegentlich komponiert ein Wal einen neuen Hit, den andere Wale überall im Ozean übernehmen. Wissenschaftler nehmen diese Hits regelmäßig auf und analysieren sie mit Hilfe von Computern, aber kann sich irgendein Mensch diese musikalischen Erfahrungen vorstellen und den Unterschied zwischen einem Beethoven-Wal und einem Justin-Bieber Wal feststellen?[6]

Das alles sollte uns nicht überraschen. Die Menschen herrschen nicht deshalb über die Welt, weil sie über tiefere Emotionen oder hochkomplexe musikalische Erlebnisse als andere Tiere verfügen. In vielen Gefühls- und Erfahrungsbereichen könnten wir Walen, Fledermäusen, Tigern und Pelikanen womöglich sogar unterlegen sein.

Jenseits des mentalen Spektrums von Menschen, Fledermäusen, Walen und allen anderen Tieren könnten noch größere und fremdere Kontinente lauern. Aller Wahrscheinlichkeit nach gibt es eine unendliche Vielfalt von Geisteszuständen, die kein Mensch, keine Fledermaus und kein Dinosaurier in vier Milliarden Jahren irdischer Evolution je erlebt haben oder erleben werden, weil sie nicht über die notwendigen Fähigkeiten (neuronalen Grundlagen) verfügen.

Irdisches Leben hat sich vermutlich aus Einzellern entwickelt. Was, wenn die Evolution zu einem sehr frühen Zeitpunkt wo anders hin abgebogen wäre? Die Lebewesen auf dieser Erde sähen komplett anders aus und es würde sich auch gänzlich anders anfühlen, in ihrer Haut zu stecken. Alles irdische Leben basiert auf Kohlenstoffbasis, aber wer sagt uns, dass es nicht auch grundsätzlich anders konstituierte Formen von Leben geben kann? Würde es sich beispielsweise für eine siliziumbasierte künstliche Lebensform genauso anfühlen, eine Rotempfindung zu haben oder zu denken, wie für uns?

Wir werden das vielleicht nie wissen. Zwar könnten wir eines Tages tatsächlich künstliches Leben erschaffen, wie – und ob – sich die Existenz für diese Wesen dann aber anfühlt, wird sich vermutlich auf ewig unserer Erkenntnis entziehen. Wir wissen ja noch nicht einmal so genau, wie sich das Leben unserer engsten Freunde von innen heraus anfühlt. Vielleicht sind all unsere Freunde und Verwandte gar nicht bewusst, sondern alle bis auf mich nur geistlose Zombies?

Der Mensch wird sich weiterentwickeln, wegen der fortschreitenden biologischen, vor allem aber auch aufgrund seiner kulturellen und technologischen Evolution. Irgendwann wird sich eine neue Art und irgendwann eine neue Gattung evolviert haben und der Homo Sapiens wird der Neandertaler von Morgen sein. So wie ein Neandertaler, oder gar ein Schwein, nicht verstehen, warum und wie wir uns an Rembrandt und Mozart künstlerisch ergötzen, werden unsere Nachfahren über Kunstformen und Freuden verfügen, die uns wohlmöglich so fern und unbegreiflich sind, wie Mozart einem Schwein.

Aber werden unsere Nachkommen Wissen darüber haben, wie sich die Freuden eines Schweines anfühlt, während dieses sich im Schlamm suhlt? Vielleicht. Elektrodenhelme, Gehirn-Computer-Schnittstellen oder gar Upload-Techniken könnten ihnen Zugänge zu bisher fremden mentalen Zuständen verschaffen. So wie Kolumbus und Magellan über den Horizont hinaussegelten, um neue Inseln und unbekannte Kontinente zu entdecken, so könnten wir uns eines Tages zu den Antipoden den Geistes aufmachen.

Hinweis: Dieser Aufsatz ist sehr "populärwissenschaftlich" geschrieben, zB. ist es umstritten, ob so etwas wie mentale Zustände (Qualia) überhaupt existieren. Für eine akademischere Einführung in das Problem des Fremdpsychischen siehe hier und hier.

Einzelnachweise

[1] Max Scheler: Wesen und Formen der Sympathie, 2. Aufl. 1923, Teil C: Vom fremden Ich

[2] Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt, Neuauflage Hamburg 1998, oder Victor Kraft: Der Wiener Kreis, 2. Aufl. 1968, Kapitel: Physikalismus, siehe auch Gilbert Ryle: Der Begriff des Geistes, Stuttgart 1969

[3] Thomas Nagel: What is it like to be a bat? (Memento vom 24. Oktober 2007 im Internet Archive) In: The Philosophical Review. Cornell University, Ithaca 83/1974, S. 435–450. ISSN 0031-8108

[4] Michael PauenWie privilegiert ist die Perspektive der ersten Person?

[5] Benny Shanon, Antipodes of the Mind: Charting the Phenomenology of the Ayahuasca Experience, Oxford 2002
[6] Michael J. Noad u.a., „Cultural Revolution in Whale Songs“, in: Nature 408:6812 (2000), S. 537

Teile aus: Yuval Noah Harari: Homo Deus: Eine Geschichte von Morgen

Stand: 2017

Kommentare: 4
  • #4

    WissensWert (Dienstag, 06 November 2018 17:35)

    http://www.gavagai.de/themen/HHPT10.htm

  • #3

    WissensWert (Freitag, 12 Mai 2017 16:16)

    https://link.springer.com/article/10.1007/s11757-017-0419-2

  • #2

    WissensWert (Freitag, 12 Mai 2017 16:15)

    http://scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/das-problem-des-fremdpsychischen-wissen-wir-vom-mitmenschen/

  • #1

    WissensWert (Sonntag, 23 April 2017 17:49)

    http://www.robert-bauer.eu/carnap.php


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