Die Kohärenztheorie der Wahrheit sagt aus, dass eine Proposition wahr ist, gdw. sie Teil einer (maximal) kohärenten Menge von Propositionen ist.[1]
Formal: Die Proposition P1 ist wahr, gdw. sie mit der Gesamtheit der anderen Propositionen P2, P3, … Pn übereinstimmt bzw. sich in diese eingliedern lässt.
Bekannte Vertreter der Kohärenztheorie sind u.a.[2]: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Brand Blanshard, Nicholas Rescher, Otto Neurath und Donald Davidson.[3]
Frage: Was zeichnet eine (maximal) kohärente Menge von Propositionen aus?
Antwort: Damit eine Menge M von Propositionen kohärent ist, muss min. gelten:
i. Konsistenz: Die Konjunktion der Propositionen in M ergibt keinen Widerspruch.
ii. Stützung: Die Propositionen in M rechtfertigen bzw. erklären sich gegenseitig.
Die Kohärenztheorie definiert Wahrheit über Kohärenz und Kohärenz über Stützung oder logische Folge, welche idR. wieder über Wahrheit definiert werden:
- A stützt B, gdw. die Wahrheit von A es wahrscheinlich macht, dass B wahr ist.
- B folgt logisch aus A gdw. gilt: wenn A wahr ist, muss B wahr sein.
Die Kohärenztheorie definiert Wahrheit über Konsistenz, welche den Satz vom Widerspruch vorauszusetzen scheint. Die Wahrheit dieses Satzes scheint nach der Kohärenztheorie aber bereits selbst die Kohärenztheorie vorauszusetzen.[4]
Wenn ein Märchen in sich kohärent ist, muss ein Kohärenztheoretiker es für wahr halten. Er muss bestreiten, dass Wahrheit etwas mit Wirklichkeit zutun hat!
Wenn im 13. Jahrhundert P "die Sonne dreht sich um die Erde" Teil einer kohärenten Propositionsmenge war, muss ein Kohärenzthereoretiker behaupten, dass P damals wahr war. Er muss bestreiten, dass Wahrheit notwendig ist!
Es gibt unendlich viele kohärente Propositionsmengen. Der Kohärenztheoretiker muss also behaupten, dass es unendlich viele wahre Propositionen gibt.
Wenn P1 Teil eines kohärenten Systems S1 von Propositionen ist, dann lässt sich für die Negation ¬P1 ein anderes System S2 finden, in das sich ¬P1 kohärent eingliedern lässt. Der Kohärenztheoretiker muss also P1 und ¬P1 gleichermaßen für wahr halten und in Folge den Satz vom Widerspruch bestreiten!
Wenn man auf die Probleme (d) bis (f) entgegnet, dass eine Proposition nur wahr ist, wenn sie Teil einer bestimmten Propositionsmenge ist, stellt sich ein neues Problem: Der Kohärenztheoretiker muss diese spezifizierte Menge identifizieren, darf dabei aber nicht argumentieren, dass diese mit Tatsachen korrespondiert.[5]
Wenn man auf das Problem (e) entgegnet, dass eine Proposition nur wahr ist, wenn sie Teil der Propositionsmenge PM ist, von der die Mehrheit der Menschen M überzeugt ist, führt dies in ein Regressproblem:[7] Warum ist "M sind von PM überzeugt" wahr? Angesichts der neuesten Entgegnung muss man antworten: Da die Mehrheit der Menschen von "M sind von PM überzeugt" überzeugt ist usw.
Nach der Kohärenztheorie ist P1 wahr, wenn P1 gegenüber einem System P2, .... Pn kohärent ist. Und nach der Redundanzbedingung gilt: "P ist wahr, wenn P." Aus diesen Behauptungen folgt nun, dass es es nur schneit, wenn P1 "es schneit" mit einer Reihe von anderen Propositionen kohärent ist. Der Kohärenztheoretiker muss behaupten, dass sich die Wirklichkeit nach Propositionen richtet.[6]
Der Gehalt einer Überzeugung besteht in der Behauptung einer von Überzeugungen unabhängigen Tatsache. Damit die Überzeugung wahr ist, muss dieser Gehalt erfüllt sein. Der Kohärenztheoretiker muss bestreiten, dass Propositionen von geistesunabhängigen Tatsachen handeln.[8]
[1] Peter Baumann: Erkenntnistheorie (2006), S. 175.
[2] https://plato.stanford.edu/entries/truth-coherence/
[3] Für einen guten Einstieg in Davidsons Wahrheitstheorie siehe: Michael Glanzberg: Against truth-value gaps (2003), S. 151–194.
[4] Bertrand Russell: The Problems of Philosophy (1912).
[5] Bertrand Russell: On the Nature of Truth (1907), S. 228–249.
[6] Colin McGinn: The Truth about Truth (2002). In: What is Truth?, S. 195
[7] Ralph Charles Sutherland Walker: The coherence theory of truth: Realism, anti-realism, idealism (1989)
[8] Paul Thagard: Coherence, Truth and the Development of Scientific Knowledge (2007). In: Philosophy of Science, 74: 26–47.
Philoclopedia (Sonntag, 30 Juni 2019 15:45)
„Die Wissenschaft als ein System von Aussagen steht jeweils zur Diskussion. Aussagen werden mit Aussagen verglichen, nicht mit ‚Erlebnissen’, nicht mit sonst etwas. (...) Jede neue Aussage wird mit der Gesamtheit der vorhandenen, bereits miteinander in Einklang gebrachten, Aussagen konfrontiert. Richtig heißt eine Aussage dann, wenn man sie eingliedern kann. Was man nicht eingliedern kann, wird als unrichtig abgelehnt. (...) Stets wird eine Aussage mit einer anderen oder mit dem System der Aussagen verglichen, nicht aber mit einer ‚Wirklichkeit’. Solches Beginnen wäre Metaphysik, wäre sinnleer.“
- Otto Neurath: Soziologie im Physikalismus, S. 403f.
Philoclopedia (Samstag, 29 Juni 2019 23:42)
Blanshard (1939, Kap. XXVI) argumentiert, dass eine Kohärenztheorie der Rechtfertigung zu einer Kohärenztheorie der Wahrheit führt. Sein Argument lautet wie folgt. Jemand mag meinen, dass die Kohärenz mit einer Reihe von Überzeugungen die Prüfung der Wahrheit ist, aber diese Wahrheit besteht in der Übereinstimmung mit objektiven Tatsachen. Wenn die Wahrheit jedoch in der Entsprechung objektiver Tatsachen besteht, ist die Kohärenz mit einer Reihe von Überzeugungen kein Test für die Wahrheit. Dies ist der Fall, da es keine Garantie dafür gibt, dass ein perfekt kohärenter Satz von Überzeugungen mit der objektiven Realität übereinstimmt. Da die Kohärenz mit einer Reihe von Überzeugungen ein Test der Wahrheit ist, kann Wahrheit nicht in Übereinstimmung bestehen.
Blanshards Argument wurde beispielsweise von Rescher (1973) kritisiert. Blanshards Argument hängt von der Behauptung ab, dass die Kohärenz mit einer Reihe von Überzeugungen der Test der Wahrheit ist. In gewissem Sinne ist diese Behauptung plausibel genug. Blanshard muss diese Behauptung jedoch in einem sehr starken Sinne verstehen: Kohärenz mit einer Reihe von Überzeugungen ist eine unfehlbare Prüfung der Wahrheit. Wenn die Kohärenz mit einer Reihe von Überzeugungen einfach eine gute, aber fehlbare Prüfung der Wahrheit ist, wie Rescher vorschlägt, schlägt das Argument fehl. Das "Auseinanderbrechen" von Wahrheit und Rechtfertigung, auf das sich Blanshard bezieht, ist zu erwarten, wenn Wahrheit nur eine fehlbare Prüfung der Wahrheit ist.