Wissen ist ein zentraler Begriff in der Erkenntnistheorie.
In der Alltagssprache verwenden wir den Begriff "Wissen" auf zwei Weisen:
1. ‚Wissen‘ im Sinne von ‚wissen wie‘ (‚knowing how‘). In diesem Sinne bedeutet ‚wissen’ so viel wie ‚etwas können’ oder ‚eine bestimmte Fähigkeit besitzen’:
2. ‚Wissen‘ im Sinne von ‚wissen dass‘ (‚knowing that‘). In diesem Sinne bedeutet ‚wissen’ so viel wie ‚über eine bestimmte Information verfügen’ oder ‚eine bestimmte Tatsache kennen’:
Wissen der zweiten Art wird auch ‚propositionales Wissen’ genannt. Es lässt sich in Sätze der Form „wissen, dass p“ ausdrücken. Gegenstand der erkenntnistheoretischen Analyse von Wissen ist traditionell ausschließlich das propositionale Wissen.
Wenn man einen Begriff F analysiert, dann muss man Merkmale M1, ... Mn angeben, so dass:
(A) jedes
einzelne Merkmal notwendig für F ist und
(B) die Merkmale zusammen
hinreichend für F sind.
Dabei gilt:
Ein Merkmal M ist notwendig dafür, dass etwas x F ist, wenn etwas nur dann F sein kann, wenn es auch M ist. Die Testfrage zu einer notwendigen Bedingung lautet: Kann man aus dem Umstand, dass etwas x nicht M ist, sicher darauf schließen, dass x auch nicht F sein kann? Wenn beispielsweise x kein Arzt ist, dann ist er auch kein Chirurg. Ein Arzt zu sein ist notwendig um Chirurg sein zu können.
Die Merkmale M1, ... Mn sind hinreichend dafür, dass etwas F ist, wenn etwas F sein muss, wenn es M1, …. Mn ist. Die Testfrage zu einer hinreichenden Bedingung lautet: Kann man aus dem Umstand, dass etwas x die Merkmale M1, ... Mn hat, sicher darauf schließen, dass x auch F ist? Wenn beispielsweise x ein Chirurg ist, dann ist er auch ein Arzt. Ein Chirurg zu sein ist hinreichend um ein Arzt zu sein.
Beispiel Junggeselle: Folgende Merkmale seien notwendig und zusammen hinreichend, damit ein x ein Junggeselle ist: x ist ein Mensch, x ist männlich, x ist im heiratsfähigen Alter, x ist unverheiratet, x ist kein Mönch, x ist nicht verwitwet.
Dann gilt: Jemand x ist genau dann ein Junggeselle, wenn gilt: x ist ein unverheirateter Mann & x ist im heiratsfähigen Alter & x ist kein Mönch & x ist nicht verwitwet.
Die Aufgabe der Erkenntnistheoretiker besteht also darin, eine analoge Analyse von ‚Wissen’ genauer: von ‚x weiß, dass p’ – zu liefern.
Zwei notwendige Bedingungen für Wissen sind offenbar:
Denn: Niemand kann wissen, dass p, wenn p nicht wahr ist oder wenn er nicht davon überzeugt ist, dass p. S weiß also nur dann, dass p, wenn p wahr ist und wenn S glaubt, dass p.
Sind die Wahrheits‐ und Glaubensbedingung zusammen aber auch hinreichend für Wissen? Ist Wissen nichts anderes als wahre Meinung? D.h. gilt: Wenn p wahr ist und wenn S glaubt, dass p, dann weiß S, dass p? Nein.
Denn:
“Sokrates: Wenn also Richter, wahrheitsgemäß, überredet worden sind im
Hinblick auf etwas, das nur, wer es selbst gesehen hat, wissen kann (...): so
sind sie, nach dem bloßen Hörensagen urteilend, zwar zu einer richtigen
Überzeugung gekommen, haben aber ohne Erkenntnis geurteilt – selbst
wenn sie, zu Wahrem überredet, gut geurteilt haben? Theätet: So ist es
allerdings. Sokrates: Wenn aber, Freund, wahre Überzeugung und Erkenntnis
dasselbe wären, könnte auch der beste Richter keine wahre Überzeugung
ohne Erkenntnis haben. So scheinen also beide verschieden zu sein.”
- Platon, Theätet
Platon fragt also, was mit jemanden sei, der zufällig richtig liegt mit seiner Überzeugung. Offensichtlich besitzt er eine wahre Meinung – aber hat er auch Wissen? Nein, denn wir würden von jemandem, der zufällig – z.B. aufgrund bloßen Ratens – zu einer Überzeugung kommt, auch dann nicht sagen, er habe gewusst, dass p, wenn p tatsächlich wahr ist. Zu Wahrheit und Überzeugung muss also noch (mindestens) eine dritte Bedingung hinzukommen, damit ein Fall von Wissen vorliegt.
Viele Erkenntnistheoretiker sehen diese dritte Bedingung in der Rechtfertigung. Wenn einer die gerechtfertigte Überzeugung besitzt, das p, dann hat er Gründe für die Wahrheit von p. Diese Rechtfertigung bzw. diese Gründe unterscheiden ihn von jemandem, der bloß richtig geraten und eine rein zufällig wahre Überzeugung hat. Nach dieser klassischen Analyse sind also (i) Wahrheit, (ii) Glauben (Überzeugtsein) und (iii) Rechtfertigung einzeln notwendig und zusammen hinreichend für Wissen. Oder anders formuliert: Wer weiß, dass p, der hat die wahre Meinung, dass p und er verfügt über Gründe dafür, dass p wahr ist.
Die Standardanalyse des Wissens:
S weiß genau dann, dass p, wenn gilt:
- W1 p ist wahr,
- W2 S glaubt, dass p, und
- W3 S ist gerechtfertigt, p zu glauben.
kurz: Wissen ist gerechtfertigte wahre Meinung.
Diese Analyse des Begriffs "Wissen" galt lange Zeit geradezu als evident. Bis im Jahre 1936 ein gerade einmal drei Seiten langer Aufsatz alles noch einmal verändern sollte…
Der Philosoph Edmund Gettier zeigte in seinem gerade einmal drei Seiten kurzen Aufsatz "Is Justified True Belief Knowledge?" (1963), dass Wahrheit, Meinung und Rechtfertigung nicht hinreichend für Wissen sein können. Sein erstes Gegenbeispiel umschrieb er so:
“Suppose that Smith and Jones have applied for a certain job. And suppose that Smith has strong evidence for the following conjunctive proposition: (d) Jones is the man who will get the job, and Jones has ten coins in his pocket. (...) Proposition (d) entails: (e) The man who will get the job has ten coins in his pocket. Let us suppose that Smith sees the entailment from (d) to (e), and accepts (e) on the grounds of (d), for which he has strong evidence. In this case, Smith is clearly justified in believing that (e) is true. But imagine, further, that unknown to Smith, he himself, not Jones, will get the job. And, also unknown to Smith, he himself has ten coins in his pocket. Proposition (e) is then true, though proposition (d), from which Smith inferred (e), is false. In our example, then, all of the following are true: (i) (e) is true, (ii) Smith believes that (e) is true, and (iii) Smith is justified in believing that (e) is true. But it is equally clear that Smith does not know that (e) is true; for (e) is true in virtue of the number of coins in Smith’s pocket, while Smith does not know how many coins are in Smith’s pocket, and bases his belief in (e) on a count of the coins in Jones’s pocket, whom he falsely believes to be the man who will get the job.”
Ein anderes Beispiel: In das Büro von Smith kommen zwei Studenten, Nogot und Havit. Smith weiß von beiden, dass sie ehrlich und verlässlich sind. Er sieht, wie Nogot bei seiner Ankunft aus einem Ford steigt, und Nogot erzählt ihm auch, dass er gerade einen Ford gekauft habe. Smith hat also gute Gründe (e) für die Annahme:
(p) Nogot, der sich jetzt in meinem Büro befindet, besitzt einen Ford.
Und hieraus schließt er deduktiv:
(q) Jemand, der sich jetzt in meinem Büro befindet, besitzt einen Ford.
Tatsächlich ist es aber Havit, und nicht Nogot, der einen Ford besitzt. Nogot hat Smith also ausnahmsweise angelogen. Der Satz q ist also wahr, und Smith glaubt,
dass q, und er ist offenbar auch gerechtfertigt zu glauben, dass q. Nach der Standardanalyse weiß Smith also, dass q. Es scheint aber auch offensichtlich, dass Smith nicht weiß, dass q, da seine
Überzeugung, dass q, aus p deduziert wurde und p unwahr ist.
Die argumentative Struktur von Gettier ist diese: Der Protagonist eines Gettier-Falls glaubt, dass p, p ist wahr und sein Glaube ist gerechtfertigt. Trotzdem weiß er nicht, dass p. Also sind die Bedingungen (W1)‐(W3) der klassischen Analyse des Wissensbegriffs zumindest nicht hinreichend für Wissen. Die klassische Analyse des Wissens ist also falsch oder zumindest unvollständig. Wissen ist nicht gleich gerechtfertigte wahre Meinung.
Die logische Struktur eines Gettier-Falls lässt sich wie folgt skizzieren:
(P1) S hat gute Gründe für die Annahme, dass p wahr ist.
(P2) S weiß, dass q aus p folgt, und er glaubt, dass q, weil er das weiß und weil (P1)
(K1) S glaubt, dass q, und
(K2) S ist gerechtfertigt zu glauben, dass q.
(P3) q ist wahr,
Nach der klassischen Wissensanalyse folgt:
(K3) S weiß, dass q.
Aber:
Wir sind uns fast alle darin einig, dass hier kein Fall von Wissen vorliegt. Also muss die klassische Analyse von Wissen, die aus (K1), (K2) und (P3) auf (K3) schließt, falsch
sein.
Warum ist das so? Es gibt mindestens einen Sachverhalt, der q wahr machen würde, und dieser Sachverhalt wird durch p ausgedrückt. Smiths Rechtfertigung für q beruht also darauf, dass er gute Gründe dafür hat, p für wahr zu halten.
Tatsächlich wird q aber nicht durch den durch die Aussage p ausgedrückten Sachverhalt, sondern durch einen anderen durch p* ausgedrückten Sachverhalt wahr gemacht. q ist wahr, weil p* wahr ist, während p falsch ist. Also hat Smiths Rechtfertigung nichts mit dem Sachverhalt zu tun, der q tatsächlich wahr macht, und deshalb weiß Smith nicht, dass q.
Diagnose:
In Gettier‐Fälle
gelangt der Protagonist deswegen zu einer wahren
Überzeugung,
weil er Glück
hat. Und Glück
ist
–
ebenso wie Raten
–
mit Wissen unvereinbar.
Gettier selbst gesteht zu, dass seine Beispiele nur dann schlüssig sind, wenn man die folgenden beiden Annahmen über Rechtfertigung akzeptiert:
R1:
Man kann auch in falschen Überzeugungen gerechtfertigt sein.
R2: Wenn folgendes gilt:
(a) S ist gerechtfertigt, p zu glauben,
(b) p impliziert q und
(c) S leitet q aus p ab und kommt auf der Grundlage dieser Ableitung zu der Überzeugung q, dann ist S auch
gerechtfertigt, q zu glauben.
Die Reaktionen auf die Gettier-Fälle lassen sich in drei Typen unterscheiden:
1. Bestreiten: Man bestreitet, dass die Beispiele wirkliche Gegenbeispiele sind. Das heißt, man argumentiert, dass in diesen Beispielen die drei Bedingungen der Analyse (W) tatsächlich nicht erfüllt sind.
2. Ergänzen:
Man akzeptiert die Gettier‐Beispiele
als Gegenbeispiele und versucht, die Analyse (W) durch Hinzunahme einer vierten Bedingung zu retten.
3. Ersetzen: Man akzeptiert die Gettier‐Beispiele als Gegenbeispiele und versucht, zu einer adäquaten Wissensanalyse zu kommen, indem man die Rechtfertigungs‐Bedingung (W3) durch eine andere Bedingung ersetzt.
Für die Reaktion 1 lässt sich wie folgt argumentieren: Gettier‐Beispiele sind keine wirklichen Gegenbeispiele gegen die Analyse (W). In den Fällen von Gettier ist die Bedingung (W3) verletzt. Tatsächlich ist Smith nicht gerechtfertigt zu glauben, dass jemand, der sich jetzt in seinem Büro befindet, einen Ford besitzt.
Warum ist das so?
Eine Antwort: Man kann nicht gerechtfertigt sein, etwas Falsches zu glauben. D.h., statt Gettiers (R1) ist folgendes Prinzip korrekt:
(R1′) Wenn S gerechtfertigt ist zu glauben, dass p, dann ist p wahr.
Mit anderen Worten: Rechtfertigung ist faktiv.
Beispiel Hans: Hans sieht, dass bei 100 Würfen einer bestimmten Münze immer ‘Kopf’ gefallen ist. Daraus schließt er induktiv, dass auch beim nächsten Wurf dieser Münze ‘Kopf’ fallen wird. Tatsächlich fällt auch beim 101. Wurf ‘Kopf’. In diesem Fall würden wir offenbar sagen, dass Hans gerechtfertigt war, dies zu glauben.
Beispiel Fritz: Fritz beobachtet den Wurf einer anderen Münze. Bei dieser Münze fällt ebenfalls bei 100 Würfen immer ‘Kopf’. Daraus schließt auch Fritz induktiv, dass beim nächsten Wurf dieser Münze wieder ‘Kopf’ fallen wird. Tatsächlich fällt jedoch beim 101. Wurf ‘Zahl’. War nicht auch Fritz gerechtfertigt zu glauben, dass ‘Kopf’ fallen würde?
Die Beispiele machen plausibel:
1. Rechtfertigungen können auch auf induktiven Schlüssen beruhen, also auf
Schlüssen, die nicht wahrheitsgarantierend sind.
2. Ob eine Person gerechtfertigt ist oder nicht, hängt in gewisser Weise nur von der epistemischen Situation ab, in der sie sich befindet, d.h. von den Erfahrungen, die S macht, und von
den anderen Anhaltspunkten, über die S verfügt.
Damit ergibt sich: Wenn sich zwei Personen in derselben epistemischen Situation befinden und aus denselben Gründen zu denselben Überzeugungen kommen, kann es daher nicht sein, dass die eine Person in diesen Überzeugungen gerechtfertigt ist, die andere aber nicht. Wenn Hans’ Überzeugung, dass beim nächsten Wurf ‘Kopf’ fallen wird, gerechtfertigt ist, dann ist auch Fritz in dieser Überzeugung gerechtfertigt. Man kann folglich und offenbar doch gerechtfertigt sein, Falsches zu glauben. Rechtfertigung ist nicht faktiv!
Resümé:
Anhänger der Strategie 1 folgen durchweg ein‐
und demselben Muster: Sie machen Rechtfertigung nicht nur von der epistemischen Situation des Subjekts S abhängig,
sondern auch von Dingen, von denen S – so wie seine epistemische Situation beschaffen ist – nichts weiß oder sogar nichts wissen kann. Daraus folgt, dass es nach allen diesen Prinzipien
möglich ist, dass zwei Personen A und B in derselben epistemischen Situation sind, dass sie in dieser Situation beide aus denselben Gründen zu der Überzeugung p kommen, dass aber nur A in dieser
Überzeugung gerechtfertigt ist, B dagegen nicht. Und das scheint ausgesprochen kontraintutiv.
Für die zweite Reaktion lässt sich wie folgt argumentieren: Die Gettier‐Beispiele
sind wirklich Gegenbeispiele gegen die Analyse (W). Sie zeigen, dass die Bedingungen (W1)
–
(W3) auch zusammen nicht hinreichend sind für
Wissen. Die Bedingungen (W1) – (W3) müssen nun durch eine vierte ergänzt werden.
Welche?
Eine Antwort: In Gettier‐Fällen liegen die Dinge so: q ist wahr, S glaubt, dass q und S ist gerechtfertigt zu glauben, dass q. Und trotzdem weiß S nicht, dass q. Warum nicht? Weil S’ Rechtfertigung widerlegt (defeated) ist.
Daraus folgt eine neue Wissensanalyse II:
S weiß genau dann, dass p, wenn gilt:
- W1 p wahr ist,
- W2 S glaubt, dass p, und
- W3 S gerechtfertigt ist zu glauben, dass p.
- W4 S’ Rechtfertigung nicht widerlegbar ist.
Frage: Was heißt in diesem Zusammenhang ‘widerlegbar’?
Der Fall Tom Grabit: S sieht, wie jemand ein Buch aus der Bibliothek entfernt, indem er es unter dem Mantel versteckt hinausträgt. Da S sicher ist, dass es sich bei dem Mann um Tom Grabit handelt, den er aus seinen Vorlesungen gut kennt, sagt er:
(p) Ich weiß, dass Tom Grabit das Buch gestohlen hat.
Aber angenommen, es gilt auch:
(q) Mrs. Grabit, die Mutter von Tom, hat ausgesagt, Tom sei am betreffenden Tage gar nicht in der Stadt gewesen. Tom habe aber einen eineiigen Zwillingsbruder, John, der an diesem Tage in der Bibliothek gewesen sei.
S hat gute Gründe e zu glauben, dass p, d.h. dass Tom Grabit das Buch gestohlen hat:
·
S sieht, wie jemand ein Buch aus der Bibliothek entfernt, indem er es unter dem Mantel versteckt hinausträgt.
·
S hält die Person, die er sieht, für Tom Grabit.
·
S kennt Tom Grabit gut aus seinen Vorlesungen.
Also gilt: (i) S glaubt, dass p und (ii) S ist gerechtfertigt zu glauben, dass p. Wenn außerdem (iii) gilt, dass p wahr ist, scheint S also zu wissen, dass p.
Aber: S weiß das aber nicht; S weiß nicht, dass Tom Grabit das Buch gestohlen hat.
Denn: S’ Rechtfertigung wird durch die Aussage von Mrs. Grabit widerlegt.
S’ Rechtfertigung für die Überzeugung, dass p, ist deshalb widerlegt, weil Folgendes gilt: S hat gute Gründe e für die Annahme, dass p. Aber: Es gibt eine – S nicht
bekannte – wahre Aussage q, so dass gilt: e und q zusammen rechtfertigen S nicht, p zu glauben.
Noch einmal:
S’ Rechtfertigung für die Überzeugung, dass p, ist widerlegt, wenn:
·
S zwar gute Gründe e für die Annahme hat, dass p, wenn es aber
·
eine – S nicht bekannte – wahre Aussage q gibt, so dass gilt: e und q zusammen rechtfertigen S nicht, p zu glauben.
Kritik:
Was aber ist, wenn außerdem wahr ist:
(r) Mrs. Grabit ist geistig verwirrt, und Tom hat gar keinen Zwillingsbruder?
Dann gilt doch offenbar: e und q zusammen rechtfertigen S nicht, p zu glauben.
Aber
es gilt auch: e, q und r zusammen rechtfertigen S wieder, p zu glauben.
In diesem Fall widerlegt q S’ Rechtfertigung also nur scheinbar.
Es gilt also, echte von nur scheinbaren Widerlegungen zu unterscheiden.
Vorschlag:
Wenn S aufgrund von e gerechtfertigt ist zu glauben, dass p, dann wird diese Rechtfertigung durch die wahre Aussage q nur scheinbar widerlegt, wenn es eine weitere Aussage q′ gibt, für die
gilt:
(i)
e & q rechtfertigen S nicht, p zu glauben
(ii) e & q & q′ rechtfertigen S aber wieder, p zu glauben, und zwar in demselben Sinn, in dem e S rechtfertigte, p zu glauben.
Daraus folgt abermals eine neue Wissensanalyse III:
S weiß genau dann, dass p, wenn gilt:
- W1: p wahr ist,
- W2: S glaubt, dass p, und
- W3: S gerechtfertigt ist zu glauben, dass p.
- W4: es für jede wahre Aussage q, für die gilt: e & q rechtfertigen S nicht, p zu glauben, eine weitere wahre Aussage q* gibt, für die gilt: e & q & q* rechtfertigen S
wieder, p zu glauben, (und zwar in demselben Sinn, in dem e S rechtfertigte, p zu glauben.)
Der Fall Gert: Gert liest in der Zeitung, ein Führer der Bürgerrechtsbewegung sei ermordet worden. Der Artikel wurde von einem Augenzeugen geschrieben, der wahrheitsgemäß über das Ereignis berichtet hat. Gert glaubt, was er liest, und ist in seiner Überzeugung offenbar auch gerechtfertigt. Um Rassenunruhen zu vermeiden, haben sich allerdings alle anderen Augenzeugen verschworen, das Geschehene zu leugnen und stattdessen zu behaupten, dem Führer der Bürgerrechtsbewegung gehe es nach wie vor gut.
Alle Kollegen von Gert haben nicht nur den Artikel gelesen, sie haben auch die gegenteiligen Behauptungen der anderen Augenzeugen gehört und sind deshalb nicht
gerechtfertigt zu glauben, der Führer der Bürgerrechtsbewegung sei ermordet worden. Sollen wir nun trotzdem sagen, dass Gert, der nur durch Zufall nichts von den gegenteiligen Behauptungen gehört
hat, weiß, dass der Führer der Bürgerrechtsbewegung ermordet worden ist?
Für die dritte Reaktion lässt sich wie folgt argumentieren: Die Gettier‐Beispiele sind wirklich Gegenbeispiele gegen die Analyse (W). Sie zeigen, dass die Bedingungen (W1) – (W3) auch zusammen nicht hinreichend sind für Wissen. Die Bedingung (W3) muss nun durch eine andere ersetzt werden.
Welche?
Ein zentraler Aspekt aller Gettierbeispiele scheint zu sein, dass es in ihnen keinen adäquaten Zusammenhang zwischen der (wahren) Überzeugung q des epistemischen
Subjekts S und der Tatsache gibt, die diese Überzeugung wahr macht.
Die kausale Theorie des Wissen (WAIV) versucht genau diesen Zusammenhang zu sichern:
S weiß genau dann, dass p, wenn gilt:
- W1 p wahr ist,
- W2 S glaubt, dass p, und
- W3K S’ Überzeugung, dass p, durch die Tatsache verursacht wurde, die p wahr macht.
Aber:
Angenommen, die Tatsache, dass sich im Gehirn von S eine bestimmte Chemikalie C befindet, sei die Ursache dafür, dass S überhaupt Überzeugungen haben kann. Und angenommen, S kommt zu der
Überzeugung, dass sich in seinem Gehirn die Chemikalie C befindet, ohne dass er dafür irgendwelche Anhaltspunkte hat. Dann weiß S offenbar nicht, dass sich in seinem Gehirn die Chemikalie C
befindet.
Die verbesserte kausale Wissensanalyse (WAV) lautet also:
S weiß genau dann, dass p, wenn gilt:
- W1 p wahr ist,
- W2 S glaubt, dass p, und
- W3Kv S’ Überzeugung, dass p, in angemessener Weise durch die Tatsache verursacht wurde, die p wahr macht.
Die Vorzüge der kausalen Theorie:
- Die kausale Theorie des Wissens liefert eine einfache und überzeugende Analyse für Fälle nicht‐inferentiellen
Wissens
–
also für
Fälle,
in denen einen
Überzeugung
nicht darauf beruht, dass sie aus anderen
Überzeugungen
(deduktiv oder induktiv) abgeleitet wurde. Die kausale Theorie des Wissens hat daher insbesondere keine Probleme mit Wahrnehmungswissen.
- Auf der anderen Seite schließt sie auch inferentielles Wissen nicht aus, wenn dieses auf Überzeugungen beruht, die ihrerseits durch das Gewusste bewirkt wurden.
- Auch der Fall von Wissen durch Kommunikation ist mit der kausalen Theorie gut zu erfassen. Nehmen wir an, S weiß, dass es draußen regnet, weil er die entsprechende Überzeugung hat und diese
Überzeugung durch die Tatsache, dass es draußen regnet, selbst verursacht wurde. Wenn S nun, weil er davon überzeugt ist, sagt: „Es regnet draußen“ und wenn diese Äußerung bei mir – kausal – die
entsprechende Überzeugung hervorruft, dann weiß auch ich, dass es draußen regnet.
- Die kausale Analyse bietet eine Lösung für die klassischen Gettierbeispiele.
Probleme für die (verbesserte) kausale Theorie:
- Wissen um die Zukunft: Zukünftige Ereignisse können jetzige Überzeugungen nicht verursachen. Goldmans Lösungsvorschlag:
W3K* S’ Überzeugung, dass p, wurde in angemessener Weise durch p verursacht oder S’ Überzeugung, dass p, und p wurden in angemessener Weise durch dieselbe Ursache e hervorgerufen.
- Allgemeines Wissen:
Die Tatsache, dass alle Menschen sterblich sind, beinhaltet auch die Sterblichkeit von Menschen, die noch gar nicht geboren sind. Wie sollen diese Fälle eine entsprechende Überzeugung verursachen
können? Und wie soll man sich diese Verursachung im Fall der Tatsache, dass Neutrinos die Ruhemasse 0 haben, vorstellen?
- Mathematisches Wissen:
Die Tatsachen, dass 7 eine Primzahl ist oder dass es überabzählbar unendlich viele reelle Zahlen gibt, liegen außerhalb von Raum und Zeit und sind daher keine möglichen
Ursachen.
Gegenbeispiel – Henrys Scheune:
Henry fährt aufs Land und kommt nach einigen Kilometern zu einem Gebäude, das wie eine Scheune aussieht. Aufgrund dieser Tatsache kommt er zu der Überzeugung:
(p) Vor mir steht eine Scheune.
Selbst wenn man annimmt, dass p wahr ist, stellt diese Überzeugung kein Wissen dar, wenn es in der Gegend, durch die Henry fährt, eine Menge von Potemkinschen Scheunen gibt – Scheunenattrappen aus Pappmaché, die von wirklichen Scheunen für Uneingeweihte nicht zu unterscheiden sind.
Goldman hat dieses Beispiel selbst in seinem Aufsatz “Discrimination and Perceptual Knowledge” (Journal of Philosophy 73 (1976), 771‐799) gegen seine ursprüngliche Kausalanalyse ins Feld geführt und aus diesem Beispiel die folgende Konsequenz gezogen: Die kausale Analyse ist zwar im Prinzip richtig. Aber es kommt nicht so sehr darauf an, dass die Überzeugung p durch die Tatsache, die p wahr macht, verursacht wurde, sondern vielmehr darauf, dass diese Überzeugung durch eine verlässliche Methode bzw. einen verlässlichen Prozess zustande kam.
WA VI:
S weiß genau dann, dass p, wenn gilt:
W1 p wahr ist,
W2 S glaubt, dass p, und
W3V S’ Überzeugung, dass p, auf einem verlässlichen Prozess zur Erzeugung von Überzeugungen
beruht.
Frage: Was ist ein verlässlicher Prozess? Ein Prozess M zur Erzeugung von Überzeugungen ist genau dann verlässlich, wenn M immer (bzw. in den meisten Fällen)
zu wahren Überzeugungen führt.
Aber: Die Individuierung von Prozessen:
Jeder einzelne Prozess instantiiert die unterschiedlichsten Typen von Prozessen. Jemand schaut auf seine korrekt gehende Schweizer Armbanduhr und kommt so zu einer wahren Überzeugung bzgl. der
Uhrzeit.
Dieser Prozess fällt unter die folgenden Typen:
· auf die Uhr schauen
· auf eine Armbanduhr
schauen
· auf eine korrekt gehende Uhr schauen
· auf eine Schweizer Uhr
schauen
· auf eine korrekt gehende Armbanduhr schauen
· auf eine korrekt gehende
Schweizer Armbanduhr schauen; usw.
Präzisierungsversuch:
Wenn jemand auf eine bestimmte Weise M zu einer Überzeugung kommt, dann ist die Bedingung (W3V) erfüllt, wenn es irgendeinen verlässlichen Prozesstyp gibt, den M instantiiert.
Problem:
Wenn jemand auf eine bestimmte Weise M zu einer wahren Überzeugung kommt, dann gibt es immer einen verlässlichen Prozesstyp, den M instantiiert.
Jemand schaut genau um 11 Uhr auf seine Armbanduhr, die exakt vor 24 Stunden stehen geblieben ist, und kommt so zu der – wahren – Überzeugung, dass es 11 Uhr ist.
Dieser Prozess fällt unter anderem unter die folgenden Typen:
· auf
die Uhr schauen
· auf
eine stehengebliebene Uhr schauen
· genau
zu der Zeit auf eine stehengebliebene Uhr schauen, zu der sie stehengeblieben ist.
Offensichtlich ist der letzte Prozesstyp durchaus verlässlich!
Lösungsversuch:
Man geht von einer Reihe von paradigmatischen verlässlichen Prozesstypen und einer Reihe von paradigmatischen nicht verlässlichen Prozesstypen aus.
Zu den paradigmatischen verlässlichen Prozesstypen können z.B. gehören:
· Wahrnehmung, sofern sie nicht unter ungünstigen Bedingungen stattfindet
· deduktives
Schließen
· induktives Schließen.
Zu den paradigmatischen nicht-verlässlichen Prozesstypen können z.B. gehören:
· Raten
· Kaffeesatzlesen
· die Karten befragen.
Den konkreten Prozess, durch den eine Überzeugung zustande gekommen ist, beurteilt man im Hinblick auf seine Verlässlichkeit, indem man prüft, ob er mehr einem Prozess der ersten oder mehr einem
Prozess der zweiten Gruppe ähnelt.
Gegenbeispiel: Truetemp: Angenommen einer Person mit dem Namen “Truetemp” wird bei einem neurochirurgischen Eingriff ein kleines Gerät eingesetzt, das auf der einen Seite ein sehr genaues Temperaturmessgerät ist, das auf der anderen Seite aber auch Überzeugungen erzeugt. Und zwar erzeugt dieses Gerät in Truetemp genau dann die Überzeugung, dass die Temperatur in Truetemps Umgebung x° C beträgt, wenn es diese Temperatur gemessen hat. Truetemps Überzeugungen bzgl. der Temperatur in seiner Umgebung sind also fast immer korrekt und offensichtlich werden sie auch durch einen verlässlichen Prozess erzeugt.
Wenn man aber weiter annimmt, dass auch folgendes gilt: Truetemp weiß nichts von dem Gerät in seinem Kopf und wundert sich eher immer ein bisschen, woher wohl seine obsessiven Temperaturüberzeugungen kommen; und Truetemp überprüft seine Temperaturüberzeugungen nie mit einem Thermometer, weiß also nichts über deren Zuverlässigkeit, sondern akzeptiert sie einfach so auf’s Geratewohl. Ist es dann angemessen zu sagen, dass Truetemp weiß, wie hoch die Temperatur in seiner Umgebung ist?
Anders als die Standardanalyse des Wissens (WAI) sind die kausale, die Defeasibility- Verlässlichkeitstheorie keine internalistischen, sondern eine externalistische Theorien des Wissens.
Die Analysen drücken grundsätzlich verschiedene Ansichten darüber aus, was Rechtfertigung ausmacht, bzw. genauer: was Wissen von wahrer Meinung unterscheidet. Z.B.:
Standardanalyse: W3 S ist gerechtfertigt zu glauben, dass p
Verlässlichkeitstheorie: W3V S’ Überzeugung, dass p, beruht auf einem verlässlichen Prozess zur Erzeugung von Überzeugungen.
Die dritte Bedingung der Standardanalyse ist so zu lesen: Ob eine Person gerechtfertigt ist zu glauben, dass p, hängt zumindest wesentlich davon ab, ob die Person gute Gründe für ihre Überzeugung anführen kann.
Man kann aber gute Gründe nur anführen, wenn einem diese Gründe bekannt sind (oder man zumindest durch Reflexion auf sie kommen kann. Die Standardanalyse enthält also ein internalistisches Verständnis von Rechtfertigung.
Rechtfertigungs‐Internalismus: Die Rechtfertigung einer Überzeugung kann nur von Faktoren abhängen, die dem epistemischen Subjekt allein durch Reflexion zugänglich sind.
- Wenn eine Person gerechtfertigt ist, p zu glauben, dann kann sie auch (zumindest im Prinzip) herausfinden, dass sie gerechtfertigt ist, p zu glauben.
- Wenn Karl und Kurt genau dieselben Gründe für ihre Überzeugung anführen können, dass p, dann kann es nicht sein, dass Karl gerechtfertigt ist, p zu glauben, während Kurt nicht gerechtfertig ist, p zu glauben.
Die dritte Bedingung der Rechtfertigungstheorie ist so zu lesen: Ob eine Person gerechtfertigt ist zu glauben, dass p, hängt zumindest wesentlich davon ab, ob sie diese Überzeugung durch einen verlässlichen Prozess erworben hat.
Eine Überzeugung kann aber auch dann durch einen verlässlichen Prozess erworben worden sein, wenn der Glaubende keinen Grund hat, dies zu glauben. Die Rechtfertigungstheorie enthält also ein externalistisches Verständnis von Rechtfertigung.
Rechtfertigungs‐Externalismus: Die Rechtfertigung einer Überzeugung hängt auch (oder sogar ausschließlich) von Faktoren ab, die dem epistemischen Subjekt nicht durch bloße Reflexion zugänglich sein müssen.
- Eine Person kann gerechtfertigt sein, p zu glauben, auch wenn sie nicht einmal im Prinzip herausfinden kann, dass sie gerechtfertigt ist, p zu glauben.
- Wenn Karl und Kurt genau dieselben Gründe für ihre Überzeugung anführen können, dass p, dann kann es sein, dass Karl gerechtfertigt ist, p zu glauben, während Kurt nicht gerechtfertig ist, p zu glauben.
Viele heutige Philosophen sind Externalisten. Darin unterscheidet sich die moderne Debatte von der traditionellen Auseinandersetzung um den Wissensbegriff. Allerdings hat auch der Internalismus nach wie vor eine große Anzahl von Anhängern.
Christian Nimtz
Stand: 2018
ghovjnjv (Donnerstag, 08 September 2022 14:32)
1
ghovjnjv (Donnerstag, 08 September 2022 11:38)
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WissensWert (Montag, 29 April 2019 01:22)
https://www.youtube.com/watch?v=cxWxGYVVFJ0
WissensWert (Freitag, 01 Juni 2018 05:31)
"Wir leben in einer Welt, die viel komplexer ist als alles, was es je gegeben hat. Das Verfügungswissen ist enorm hoch. Mit einem Knopfdruck weiß ich, wie die Hauptstadt von Bhutan heißt. Aber das Orientierungswissen hat im gleichen Maße abgenommen. Das heißt, zu wissen: Was ist wichtig? Auf welcher Basis treffe ich Werteentscheidungen? Es gibt eine große Unsicherheit in der Gesellschaft. Wir brauchen Experten, die keiner Lobby verpflichtet sind. Dazu bräuchten wir Universitäten, die Generalisten ausbilden. Die in der Lage sind, diese verschiedenen Diskurse zu bündeln, zu erklären."
WissensWert (Donnerstag, 31 Mai 2018 20:47)
https://www.youtube.com/watch?v=VXKutQeNv88
WissensWert (Donnerstag, 31 Mai 2018 20:44)
https://www.youtube.com/watch?v=YtOjg_rUbSI
WissensWert (Donnerstag, 31 Mai 2018 03:54)
http://www.philolex.de/wissen.htm