Paul Karl Feyerabend entwickelte den wissenschaftstheoretischen Methodenanarchismus vor allem in seinen beiden Hauptwerken "Wider den Methodenzwang" (1975) und "Erkenntnis für freie Menschen" (1978).
Feyerabends deskriptive Grundannahme lautet:
G1. Die Wissenschaft folgt keiner universellen Methodologie.
Denn: Für jede noch so "grundlegende" oder "einleuchtende" Methode gäbe es wissenschaftshistorische Gegenbeispiele, bei denen wissenschaftlicher Fortschritt gerade durch Missachtung oder Verletzung eben dieser Methode erzielt wurde.
„Die Idee einer Methode, die feste, unveränderliche und verbindliche Grundsätze für das Betreiben von Wissenschaft enthält [...], stößt auf erhebliche Schwierigkeiten, wenn ihr die Ergebnisse der historischen Forschung gegenübergestellt werden. Dann zeigt sich nämlich, dass es keine Regel gibt, so einleuchtend und erkenntnistheoretisch wohlverankert sie auch sein mag, die nicht zu irgendeiner Zeit verletzt worden wäre.“
- Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang (1983), S. 21
Und Feyerabends normative Grundannahme lautet:
G2. Die Wissenschaft sollte keiner einheitlichen Methodologie folgen.
Denn: "Die Welt, die wir erforschen möchten, ist etwas weitgehend Unbekanntes. Daher [...] dürfen wir uns nicht im voraus beschränken." (ebd., S. 17).
„Die liberale Praxis [...] ist nicht bloß eine Tatsache der Wissenschaftsgeschichte. Sie ist sowohl vernünftig als auch schlechthin notwendig für den Erkenntnisfortschritt. Genauer, man kann folgendes zeigen: Zu jeder Regel, sei sie noch so "grundlegend" oder "notwendig" für die Wissenschaft, gibt es Umstände, unter denen es angezeigt ist, die Regel nicht nur zu mißachten, sondern ihrem Gegenteil zu folgen.“
- Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang (1983), S. 21 f.
Die Annahme A2. steht hinter Feyerabends berühmten Slogan: "anything goes!". Dieser besagt also ausdrücklich nicht, dass Wissenschaft beliebig nach Lust und Laune vorgehen sollte. Sondern nur, dass sie nicht in einem sklavischen Befolgen absolut bindender Regeln besteht oder bestehen sollte, wie René Desescartes meinte. Ganz nüchtern formuliert behauptet Paul Feyerabend bis hierin also nur die beschränkte Gültigkeit methodologischer Regeln.
Diese Behauptung gilt auch für noch so einleuchtende Regeln wie u.a. diese hier:
R1. "Eine Theorie sollte nicht durch Ad-Hoc Hypothesen gerettet werden."
Feyerabend: Wenn anfängliche Schwierigkeiten dadurch entschärft werden können, können Ad-hoc Hypothesen eine positive Funktion haben.
R2. "Eine Theorie sollte konsistent formuliert sein."
Feyerabend: Wenn dadurch alte und nicht unbedingt bessere Hypothesen herausgefordert werden, kann es angebracht sein, neue und hinsichtlich den alten nicht konsistente Hypothesen in das Theoriennetzwerk einzubringen.
R3. "Eine Theorie sollte empirisch adäquat sein."
Feyerabend: Kaum eine Theorie stimmt jemals mit allen empirischen Befunden überein. Außerdem sind empirische Befunde sehr fehleranfällig.
R4. "Eine Theorie sollte nicht durch politische, soziale, als historisch veraltet oder absurd geltende Gedanken angereichert werden."
Feyerabend: Die Anreicherung durch solche Gedanken kann den Fortschritt und die Überwindung des "wissenschaftlichen Chauvinismus" befördern.
Aus dem bisher Gesagten schlussfolgert Feyerabend die Aufhebung der Sonderrolle der Wissenschaft (mit verschiedenen politischen Konsequenzen).
Sein Argument lässt sich so rekonstruieren:
P1. Es gibt keine universelle wissenschaftliche Methode (folgt aus G1 & G2).
P2. Wenn es es eine universelle wissenschaftliche Methode gibt, lässt sich damit eine epistemische Sonderrolle der Wissenschaft begründen.
K1. Die Wissenschaft besitzt keine epistemische Sonderrolle.
Entsprechend dieser scharfen Schlussfolgerung vor allem des späten Feyerabend verfügt Wissenschaft nicht über spezifische Merkmale, die sie gg. anderen epistemischen Feldern wie Vodoo überlegen macht. Die Hochachtung der Wissenschaft vergleicht Feyerabend mit einer irrational-religiösen Verehrung.
Sein Argument beruht aber auf dem Fehlschluss der Bejahung des Antezedenz! Das heißt: Aus der Prämissenmenge [P1; P2] folgt nur, dass es keine methodologischen Merkmale gibt, die eine Sonderrolle der Wissenschaft begründen. Es folgt aber nicht die scharfe Schlussfolgerung K1., dass es überhaupt keine Merkmale gibt, die dies leisten können. Siehe auch:
Stand: 2020
Philoclopedia (Freitag, 09 April 2021 00:08)
https://www.oxfordbibliographies.com/view/document/obo-9780195396577/obo-9780195396577-0046.xml