Der wissenschaftliche Realismus (engl. scientific realism) besagt, dass unsere reifen und gut bestätigten wissenschaftlichen Theorien reale Entitäten und Eigenschaften beschreiben.[1]
Diese Grundthese lässt sich nun noch weiter ausdifferenzieren:[2]
1. Ontologischer Realismus: Die in einer reifen Theorie postulierte Entität existiert an sich, d.h. unabhängig von unserer Erkenntnis oder Sprache.[3]
Das heißt:
(a) Es gibt reale Entitäten, die sich im Rahmen einer reifen Theorie beschreiben lassen. Damit richtet sich der ontologische Realismus gegen den Außenwelt-skeptizismus, globale Antirealismen[4] sowie starke Inkommensurabilitätsthesen.
2. Semantischer Realismus: Die in einer reifen Theorie postulierte Entität wird durch ihre theoretischen Terme (der Absicht nach) wesentlich referiert.
Das heißt:
(b) Wenn Terme ihrer Absicht nach auf reale Entitäten referieren, folgt daraus eine ontologische Verpflichtung: Wer an eine Theorie glaubt, der muss auch an alle in dieser Theorie formulierten oder von ihr ableitbaren Existenzbehaupten glauben.
Damit richtet sich der ontologische Realismus gegen Anti-Realisten, die bei der Akzeptanz einer Theorie zwischen Beobachtbaren und Unbeobachtbaren Entitäten unterscheiden.
(a) Die theoretischen Terme einer Theorie besitzen ihrer Absicht nach ein reales Referenzobjekt. Damit richtet sich der semantische Realismus gegen reduktionistische Anti-Realismen wie den von Rudolf Carnap[4][5][6], nach dem Terme über nicht-beobachtbare Entitäten auf Messwerte zurückführbar sind.
Die semantische These impliziert zweitens eine Korrespondenztheorie der Wahrheit, das heißt dass eine Theorie wahr ist, gdw. wenn sich die in ihr vorkommenden Terme auch tatsächlich auf reale Entitäten beziehen. Das Standardmodell der Teilchenphysik ist also dann wahr, wenn sich die in ihm vorkommenden Terme wie "Quark" oder "Lepton" auch auf reale Entitäten mit den entsprechenden Eigenschaften beziehen.
Die ontologische These impliziert drittens die semantische These. Denn ein Term kann sich nicht auf eine reale Entität beziehen (wollen), wenn diese Entität nicht real ist. Beispielsweise wird jemand, der Maxwells Theorie für wahr hält und aus diesem Grund an die Existenz des elektromagnetischen Feldes und der ihm zugeschriebenen Eigenschaften glaubt, nicht bestreiten können, dass die Theorie aufgrund der Tatsache wahr ist, dass elektromagnetische Felder die Maxwell-Gleichungen erfüllen. Wäre die Wahrheit der Theorie nicht in diesem realistischen Sinne zu verstehen, könnte sie auch kein Grund für ihn sein, an die Existenz der durch die Theorie postulierten Entitäten zu glauben.
Und die semantische These impliziert viertens, dass wissenschaftliche Theorien in einem gewissen Sinne wortwörtlich zu verstehen sind (axiologischer Realismus[AX]). Das heißt die theoretischen Terme "Atom", "Quark" oder "Krankheit" wollen also auf reale Atome, Quarks oder Krankheiten referieren. Daraus folgt auch, dass die semantische These umgekehrt nicht die ontologische These impliziert. Denn man kann Theorien sehr wohl wortwörtlich verstehen und gleichzeitig meinen, dass die durch sie postulierten Terme nicht real sind.
3. Epistemologische These: Wissenschaftliche Theorien enthalten (zumindest approximativ) wahre oder wahrheitsnahe Beschreibungen über die von ihnen postulierten Entitäten.
(epistemischer Optimismus): Erwachsene und empirisch erfolgreiche wissenschaftliche Theorien sind wohlbegründete und approximativ wahre Beschreibungen der Welt.
[] Kommen wir abschließend zur epistemischen These, die sich von den anderen beiden realistischen Subthesen insofern unterscheidet, als sie die Wissenschaften, wie sie ´de facto´ vorliegen, betrifft: Ist die epistemische These korrekt, dann sind wir zu glauben berechtigt, dass die "reifsten" Theorien, über die wir heutzutage verfügen, eine annähernd wahre Beschreibungen der Welt auf beiden Seiten der Beobachtbarkeits-/ Unbeobachtbarkeits-Unterscheidung liefern. Dass in dieser Formulierung einerseits nur von ´reifen´ Theorien und andererseits nur von ´annähernder´ Wahrheit die Rede ist, stellt eine wichtige Einschränkung dar: Nicht einmal die optimistische RealistInnen behaupten, dass wir im Besitz einer finalen Version der Naturwissenschaft sind, deren zukünftige Falsifikation ausgeschlossen werden kann. RealistInnen ziehen sich deshalb häufig auf die Sichtweise zurück, dass sich zumindest unsere allgemein anerkanntesten (eben: unsere ´reifsten´) Kernwissenschaften auf dem Weg hin zu einer immer besseren Annäherung an die Wahrheit befinden.
Die epistemologische These beinhaltet erstens, dass wissenschaftlicher Fortschritt in einer Wahrheitsannäherung (Konvergenz) besteht. Damit richtet er sich u.a. zum einen gegen den Konstruktiven Empirismus, nach dem wissenschaftliche Theorien mit der Zeit nur empirisch adäquater werden. Und er wendet sich gegen Kuhn, der die Vorstellung eines kumulativen, teleologischen Wissenschaftsprozesses kritisierte (Inkommensurabilität).
Die Geschichte der Wissenschaften ist als eine Annäherung an die Wahrheit zu verstehen. Wissenschaftliche Arbeiten bestätigen dabei, im Erfolgsfall, die entsprechenden Theorien.
Die epistemologische These beinhaltet zweitens, dass wir durch wissenschaftliche Theorien Wissen über die von ihnen postulierten Entitäten haben können. Nach der Standardanalyse weiß eine Person etwas über Elektronen, wenn sie an eine (approximativ) wahre Theorie über Elektronen glaubt und gerechtfertigt ist dies zu tun.
Die Epistemologische These beinhaltet drittens keine absolute Wahrheit. Der Epistemische Realist ist davon überzeugt, dass wenigstens die grundlegenden und allgemein akzeptieren Theorien "reifer" wissenschaftlicher Disziplinen (v.a. der Physik) annähernd wahr sind.[73] Indem nur "annähernde" Wahrheit gefordert wird, wird dem Argument der pessimistischen Meta-Induktion den Wind aus den Segeln genommen. Die Rede von "annähernd" wahren Theorien muss aber natürlich erst weiter expliziert werden.
Die epistemologische These beinhaltet viertens nicht die ontologische oder semantische These noch wird sie von ihnen impliziert. Denn sie ist nicht auf einen bestimmten Wahrheitsbegriff festgelegt. Wenn man "Wahrheit" beispielsweise im Sinne der Kohärenztheorie oder einer "Akzeptanz unter idealen epistemologischen Bedingungen" versteht, so ist mit dem "Für-Wahr-Halten" einer Theorie nicht notwendig die Überzeugung von der Existenz der durch die Theorie postulierten Entitäten gefordert. Die semantische These impliziert nicht die epistemologische These. Denn die semantische These behauptet nur, dass wissenschaftliche Theorien sich (der Absicht nach) auf theoretische postulierte Gegenstände wie z.B. das elektromagnetische Feld beziehen, sie kann aber dessen ungeachtet skeptisch hinsichtlich der Frage sein, ob die vorhandenen vergangenen und gegenwärtigen wissenschaftlichen Theorien jemals das Ziel einer wahren Beschreibung der Welt (des elektromagnetischen Felds) wenigstens annähernd erreicht haben. In gewisser Weise macht erst der ontologische Realismus möglich eine dezidierte skeptische Position hinsichtlich der mit wissenschaftlichen Theorien verbundenen Erkenntnisansprüchen zu vertreten.
Bilduntertitel: Welchen ontologischen, sprach(-referentiellen) und epistemologischen Status hat ein Elektron?
Dies ist vor allem für Theorien ÜBER NCIHT-BEOBACHTBARE ENTITÄTEN INTERESSANT; deren Realitätsbezug sich nicht einfach durch Beobachtung bestätigen lässt und deshalb unklarer scheint. In Bezug auf das Standardmodell der Teilchenphysik besagt der wissenschaftliche Realismus also bspw. u.a., dass nicht nur die beobachtbare Fluoreszenz in der Schattenkreuzröhre, sondern auch ein nicht-direkt beobachtbares Elektron, d.h. punktförmige Teilchen mit den dem Elektron in der Theorie zugeschriebenen Eigenschaften existieren. [] Man kann in diesem Sinne wissenschaftlicher Realist gegenüber der Theorie von Elektronen und gleichzeitig wissenschaftlicher Anti-Realist z.B. gegenüber der Stringtheorie sein, also meinen, dass keine Strings und Membranen objektiv existieren. Auf allgemeinster Ebene läuft der wissenschaftliche Realismus auf die These hinaus, dass unsere wissenschaftlichen Theorien nicht auf die Ebene der Erscheinungen beschränkt bleiben, sondern uns vielmehr einen kognitiven Zugang zu einer tiefer liegenden Ebene der Wirklichkeit erlauben. Anti-Realisten verneinen diese Ansicht.
Die Hauptvertreter des wissenschaftlichen Realismus sind Ernan McMullin, Stathis Psillos, sowie ihrem Selbstverständnis nach Hilary Putnam und Richard Boyd.[OBW]
Das gegenwärtig wohl stärkste Argument für den Wissenschaftlichen Realismus ist das "no miracle"-Argument.[NMA] Dieses wurde ursprünglich von J. J. Smart[JJS] und Hilary Putnam[WIMT] entworfen und wird meistens abduktiv rekonstruiert:
1. Die wissenschaftlichen Theorien sind empirisch erfolgreich.
2. Der wissenschaftliche Realismus ist die beste, vielleicht sogar die einzige Erklärung für den empirischen Erfolg dieser Theorien.
3. Der Wissenschaftliche Realismus ist (annäherungsweise) wahr.
[1] Eine notwendige Vorannahme des wissenschaftlichen Realismus ist der "natural-kind-Realismus", nach der es überhaupt reale Entitäten gibt bzw. die Welt eine eindeutige und bewusstseinsunabhängige (natürliche-Arten-)Struktur besitzt. Wissenschaftlicher Realismus und metaphysischer Außenweltskeptizismus sind insofern unvereinbar.
[2] Stathos Psillos: The present state of the scientific realism debate (2000)
[3] Zuweilen findet sich in der Literatur unter "ontologischer Realismus" auch die schwächere These, "es gibt eine von unseren Erkenntnisfähigkeiten und unseren sprachlichen Beschreibungen unabhängige Welt, die Gegenstände, Eigenschaften und Relationen einschließt" (vgl. Franzen: Totgesagte leben länger, S. 20 - 65). Diese These ist nicht spezifisch genug für den wissenschaftlichen Realismus. Trotzdem kann es gute Gründe geben, die obenstehende Formulierung abzuschwächen und den Realismus nur auf diejenigen Entitäten und Eigenschaften zu erstrecken, die gewisse Realitätskriterien erfüllen.
[3] z.B. der Sozialkonstruktivismus
[4] Rudolf Carnap: Testability and Meaning" (1936)
[5] Rudolf Carnap: Testability and Meaning – Continued (1937)
[6] Rudolf Carnap war beispielsweise der Ansicht, dass Terme wie "Atom", "Quark" oder "Temperatur" nicht eigentlich auf unbeobachtbare Entitäten oder Eigenschaften referieren, sondern bloß praktische "Instrumente" darstellen, um unsere Erfahrungen über Beobachtbares zu ordnen. Carnap hielt es dementsprechend für möglich, dass sich sämtliche theoretische Terme durch Beobachtungsterme explizit definieren lassen, dass also Theorien, die theoretische Terme enthalten, restlos auf Aussagen reduziert werden können, in denen nur über Beobachtbares geurteilt wird. Eine Möglichkeit, dieses reduktive Programm in die Tat umzusetzen, ist etwa die Rückführung theoretischer Terme auf die Messoperation, die zur Bestimmung dieser Terme nötig sind. Der theoretische Term "Temperatur" könnte gemäß dieser Grundidee beispielsweise wie folgt explizit definiert werden: Ein Objekt x hat die Temperatur von y Grad Celsius dann und nur dann, wenn x mit einem Thermometer in Berührung gebracht wird und das Thermometer y Grad Celsius anzeigt. Reduktive Anti-Realismen dieser Art haben sich jedoch aus technischen Gründen als undurchführbar erwiesen.[6]: Bleibt man beim Beispiel der operationalen Definition des theoretischen Terms “Temperatur“, dann ist ein offenkundiges Problem dieses: Ist “Temperatur“ restlos auf die Operation des Temperaturmessens reduzierbar, dann ist nicht einzusehen, weshalb das, was mittels eines Quecksilberthermometer gemessen wird, identisch mit dem sein soll, was man mit einem Flüssigkristallthermometer oder mit einem Bimetallthermometer misst. Dass dies eine ziemlich absurde Konsequenz ist, sollte offensichtlich sein. NICHT DIREKT BEOBACHTBARE ENTITÄTEN AUF DIREKT BEOBACHTBARE MESSOPERATIONEN ZURÜCKFÜHREN.
[NMA] In der deutschsprachigen Literatur wird das Argument oft unglücklich als "Wunderargument" übersetzt. Dabei behauptet es gerade, dass der empirische Erfolg der Wissenschaften kein-Wunder ist.
Stand: 2018
Philoclopedia (Donnerstag, 09 März 2023 07:41)
For Tolstoy’s intervention in the realism in science debate see:
http://philsci-archive.pitt.edu/17825/