Naturalistischer Fehlschluss

Der naturalistische Fehlschluss wird begangen, gdw. ein moralisches Prädikat (z.B. "gut") direkt über ein natürliches Prädikat definiert wird ("gut bedeutet Q").

Der britische Philosoph George E. Moore schreibt in seiner Principia Ethica:

"Es mag sein, dass alle Dinge, die gut sind, auch etwas anderes sind [...]. Und es steht fest, dass die Ethik entdecken will, welches diese anderen Eigenschaften sind, die allen Dingen, die gut sind, zukommen. Aber viel zu viele Philosophen haben gemeint, dass sie, wenn sie diese anderen Eigenschaften nennen, tatsächlich "gut" definieren; dass diese Eigenschaften in Wirklichkeit nicht "andere" seien, sondern absolut und vollständig gleichbedeutend mit Gutheit [goodness]. Diese Ansicht möchte ich den "naturalistischen Fehlschluss" [naturalistic fallacy] nennen [...]."
- George E. Moore: Principia Ethica, S. 40f.

Moore sagt also nicht, dass moralische Prädikate ("gut") nicht natürlichen Prädikaten zugesprochen werden können ("Q ist gut"), sondern nur, dass sie nicht mit natürlichen Prädikaten bedeutungsgleich sind ("gut bedeutet Q").

Beispiele:

Euthyphron-Dilemma: Gut ist qua definitionem das, was Gott gebietet.

Rechtspositivismus: Gut ist das, was das Gesetz gebietet.

Utilitarismus: Gut ist das, was Glück mehrt und Leid mindert.

Nach Moore unterliegen alle naturalistische Ethiken einem naturalistischen Fehlschluss. Gemäß seiner metaethischen Position soll intuitiv, und nicht etwa über natürliche Eigenschaften, entscheidbar sein, welche Dinge gut sind.

Ansonsten ließe sich bei jedem anderweitigen Definitionsvorschlag von "gut" immer hinterfragen, ob die vorgeschlagene, definierende Eigenschaft denn wirklich gut sei, das heißt eine ethische Verpflichtung mit sich bringe, beziehungsweise positive Wertzuschreibungen zur Folge habe (das Argument der offenen Frage, s.u.).

Eine wichtige Unterscheidung

Weniger dogmatisch und problematisch wären Sätze wie (1a) "Was Gott gebietet, ist gut, angesichts seines moralischen Status als höchster Herrscher oder wegen seiner größten Einsicht in moralischen Fragen" oder (2a) "Was in den Gesetzen steht, ist gerecht, als Ergebnis demokratischer Beschlüsse oder aufgrund der Verlässlichkeit gesetzgebender Organe." Offensichtlich geht eine Definition wie "gut bedeutet Q" mit einem weitaus stärkeren Anspruch völliger Selbstverständlichkeit einher, als ein Prinzip wie "Q ist gut".

Was Moore beanstandet sind also definitiv nicht Sätze wie "Q ist (/ hat die Eigenschaft) gut"Es sind Behauptungen des Typs "gut bedeutet (/ ist bedeutungsgleich mit) Q", die ihm Bauchschmerzen bereiten. Auf den ersten Blick mag diese Unterscheidung als belanglose Spitzfindigkeit erscheinen, sie wird aber noch wichtig werden und weist auf einen wichtigen, sprachlichen Unterschied hin:

  • "Q ist gut" ist ein synthetischer Satz: Er nimmt eine Synthese von Qualitäten vor, eine Zusammenfügung von Eigenschaften. D.h. es wird ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen der natürlichen Eigenschaft Q und der moralischen Eigenschaft "gut" hergestellt, respektive, eine Aussage über den moralischen Wert von Gegenständen in der Welt getroffen. Der Satz behauptet folglich, dass Dingen, welche die faktische Qualität Q besitzen, die normative Qualität "gut" zukommen würde. Ob dies inhaltlich richtig oder falsch ist, ist zweitrangig und hängt jeweils davon ab, was sich hinter der Variablen Q verbirgt. Formal ist die Zuweisung des Satzes auf jeden Fall legitim.
  • "gut bedeutet Q" ist ein analytischer Satz: Er nimmt eine Analyse von Begriffsbedeutungen vor, eine Auseinanderlegung von Wörtern. D.h. es wird ein terminologischer Zusammenhang zwischen dem moralischen Prädikat "gut" und dem natürlichen Prädikat Q hergestellt, respektive, eine bedeutungstheoretische Gleichsetzung von Normen und Fakten. Der Satz formuliert eine Definition, eine Aussage über den Sinn von Wörtern der moralischen Sprache. Er beteuert, dass das normative Attribut "gut" über das faktische Attribut Q erklärt sei und nicht anderes als dieses bedeute. Eine solche Behauptung ist gemäß Moore immer und formal falsch, ganz egal was Q inhaltlich repräsentieren mag.

Behauptungssätze können auch als Prämissen betrachtet werden. Folglich geht es Moore hier um den normologischen Status von obersten Prämissen in moralischen Schlüssen. Eine derartige Prämisse ist korrekt formuliert, wenn sie ihrerseits eine höhere Norm, ein synthetisches Prinzip vorstellig macht ("Q ist gut"). Sie wurde irrtümlich aufgestellt, wenn sie als angebliche Definition, als analytische Wahrheit auftritt ("gut bedeutet Q"). Diese Fehleinstufung einer obersten Prämisse wäre ein naturalistischer Fehlschluss im Sinne Moores.

Genau genommen kann der eigentliche Schluss, der vom Faktum auf die Norm führen soll, durchaus Gültigkeit beanspruchen. Falls "gut" tatsächlich Q bedeutet und falls A zudem Q ist, dann folgt selbstverständlich, dass A gut ist:

gut bedeutet Q
A ist Q
à A ist gut

Dieser Schluss ist an sich in Ordnung. Moores Kritik zielt auf die sprachliche Gestalt der ersten Prämisse.

kein Fehlschluss

Dass man dennoch von einem naturalistischen "Fehlschluss" spricht, erscheint unstimmig und irreleitend. Im englischen Original heißt Moores "naturalistischer Fehlschluss" nun aber "naturalistic fallacy" und fallacy kann neben Fehlschluss auch Irrtum, Täuschung oder Fehlannahme bedeuten. Von daher liegt es nahe, dass Moore nicht von einem Fehlschluss sprechen wollte, und eine angemessene Übersetzung seiner Konzeption eher "naturalistische Fehlannahme" lauten sollte

Eine andere Erklärung seiner Wortwahl geht dahin, dass Moore vielleicht gar nicht das vorhin betrachtete Schlussmuster im Sinn hatte, wenn er von einem Fehlschluss sprach, sondern allein die Suche nach den natürlichen Eigenschaften Q, die allen guten Dingen zukommen, und die etwaigen Folgerungen, die aus den Ergebnissen einer solchen Suche gezogen werden. Wenn Philosophen nämlich meinten, derartige relevante Eigenschaften Q identifiziert zu haben, fielen sie zuweilen dem Fehlschluss anheim, sie hätten die wahre Definition von "gut" gefunden. Eben diesen Irrtum könnte Moore als "naturalistischen Fehlschluss" bezeichnen, d.h. nicht den falschen Schluss von „A ist Q“ auf „A ist gut“ über eine fehlerhafte Prämisse, sondern den falschen Schluss von einer entdeckten synthetischen Verbindung „Q ist gut“ auf eine angebliche analytische Identität „gut bedeutet Q“.

Auch die Bezeichnung als "naturalistisch" ist für Moores Konzeption nicht treffend. Denn der "Naturalistische Fehlschluss" ist längst nicht nur ein Problem des ethischen Naturalismus. Alle (nicht intuitionistischen) Ethiken haben laut Moore mit seinem metaethischen Problem zu kämpfen.

Das Argument der offenen Frage

Moore gibt auch einen einfachen Grund an, weshalb seiner Meinung nach das moralische Prädikat "gut" nicht über ein natürliches Prädikat Q definiert werden kann: Nach Moore ist "gut" überhaupt nicht definierbar. Denn "gut" sei ein Grundbegriff, der seinerseits zur Definition anderer Begriffe benötigt wird, selbst aber nicht mehr über andere Begriffe definiert werden kann. Diesen Punkt versucht Moore insbesondere anhand des sogenannten „Arguments der offenen Frage(open question argument) plausibel zu machen: So kann man nach Moore bei jeder angebotenen Definition "gut bedeutet Q" sinnvoll fragen, ob Q wirklich gut ist. Dies wäre nicht möglich, wenn "gut" über Q definiert wäre.

Moores Argument klingt zunächst wenig beeindruckend: Nehme wir an, irgendeine Definition des Typs "gut bedeutet Q" sei vorgeschlagen worden. Nun stelle Moore seine offene Frage, ob Q wirklich gut sei. Hierauf liegt die Entgegnung nahe, dass eben dies doch gerade gesagt worden sei. Seine Frage enthalte somit keinerlei Begründung dafür, weshalb jene Definition nicht gelten sollte. Stattdessen beschränke sie sich darauf, den gemachten Vorschlag ohne jegliche Erläuterung in Zweifel zu ziehen. Tatsächlich verfehlt diese Entgegnung aber die Pointe von Moores Argument: Denn in der fraglichen Definition wurde keineswegs nur gesagt, dass Q gut sei. Vielmehr wurde behauptet, dass "gut" Q bedeute, und das ist etwas anderes! Entsprechend geht es bei Moores Argument der offenen Frage nicht darum, dass man nicht glauben mag oder nicht verstanden hat, dass jenes Q gut sein soll, das einem angeboten wurde. Vielmehr geht es darum, dass die Frage immer sinnvoll bleibt, ob Q wirklich gut ist, gleichgültig um welches Q es sich handelt. Und dies zeigt eben, dass "gut" nicht über Q definiert sein kann.

Irrelevant, was zur Definition von "gut" verwendet wird, oder wie sorgfältig ausgesucht dieses Q auch sein mag, die Frage bleibt sinnvoll, ob Q wirklich gut ist. Die Frage bleibt sogar dann sinnvoll, wenn man sie bejaht: Auch wenn man zustimmt, dass Q gut ist, wird die Frage keineswegs sinnlos, ob Q wirklich gut ist. Das zeigt uns, dass der Zusammenhang zwischen "gut" und Q nicht definitorischer Art sein kann. Denn dann wäre die Frage, ob Q wirklich gut ist, in der Tat sinnlos: Es ist sinnlos zu fragen, ob unverheiratete Männer wirklich Junggesellen sind. Daran kann man nicht zweifeln, wenn man die verwendeten Wörter versteht, denn dann weiß man, dass das Wort "Junggeselle" nichts anderes bedeutet als "unverheirateter Mann".

Man kann aber zweifeln, ob Q wirklich gut ist, auch bei vollem Sprachverständnis und auch beim bestgewählten Q. Das belegt, dass die Definition "gut bedeutet Q" nicht gültig ist: Man kann stets sinnvoll darüber debattieren, ob dieses Q wirklich gut ist. Man kann nachfragen, ob Q immer gut ist oder ob es Ausnahmen gibt, man kann überlegen, aus welchem Grund Q gut sein sollte, oder was dagegen spricht. All das wäre nicht möglich, wenn "gut" über Q definiert wäre: Dann wäre keine dieser Erwägungen sinnvoll. Dann müsste man sich mit dem Hinweis auf die Wortbedeutung von "gut" zufriedengeben.

Wenn Moore mit seinem Argument recht hat, so zeigt dies: Das moralische Prädikat "gut" ist nicht über ein natürliches Prädikat Q definierbar. Die benötigte Prämisse, um von dem Faktum "A ist Q" auf die Norm "A ist gut" zu schließen, kann nicht ein analytischer Satz sein der Art "gut bedeutet Q". Es muss ein synthetischer Satz sein des Typs "Q ist gut".

Anders ausgedrückt: Die obersten Prämissen moralischer Schlüsse sind nicht Definitionen, sondern Prinzipien! Ihr Zweck ist nicht, den Begriff "gut" durch den Begriff Q zu erläutern, sondern den Begriff "gut" durch den Begriff Q zu füllen. Q ist nicht die Bedeutung von "gut", sondern Q ist das Kriterium für "gut".

Verweise

Naturalistische Ethik: Als Beispiel für einen naturalistischen Fehlschluss innerhalb einer naturalistischen Ethik nennt Moore in seinen Principia ethica den in naturalistischen Kreisen populären Vorschlag, dass gut mit natürlich gleichzusetzen ist. Dies sei jedoch falsch, da Natürliches, soweit damit Normales oder Notwendiges gemeint ist, nicht ernsthaft als immer gut oder als die einzig guten Dinge angenommen werden könne:

 

“As typical of naturalistic views, other than Hedonism, there was first taken the popular commendation of what is natural: it was pointed out that by natural there might here be meant either normal or necessary, and that neither the normal nor the necessary could be seriously supposed to be either always good or the only good things.”

– G. E. Moore: Principia ethica, Chapter II: Naturalistic Ethics

Glück: Ebenso sieht Moore die Gleichsetzung von gut und angenehm (pleasant) oder wünschenswert (desirable), wie von den Hedonismus, bzw. dem Utilitaristen John Stuart Mill angenommen wurde, als naturalistischen Fehlschluss an. Dabei stellt er fest, dass für Mill als desirable implizit nur solche Wünsche gelten würden, die erwünscht sein sollten:
-

“Mill has made as naïve and artless a use of the naturalistic fallacy as anybody could desire. “Good”, he tells us, means “desirable”, and you can only find out what is desirable by seeking to find out what is actually desired […]. The fact is that “desirable” does not mean “able to be desired” as “visible” means “able to be seen.” The desirable means simply what ought to be desired or deserves to be desired; just as the detestable means not what can be but what ought to be detested […]”
– G. E. Moore: Principia ethica, Chapter III: Naturalistic Ethics, § 40.

Metaethik: Naturalistische Fehlschlüsse kommen nach Moore aber auch in den metaphysischen Ethiken vor. Als Beispiel nennt Moore die Ethiken von Spinoza, Kant und den Stoikern. Beispielsweise könne das Gute nicht allein durch das Befolgen von metaphysisch begründeten Anweisungen, egal ob im Sinne eines kategorischen Imperativs oder der Gebote einer übernatürlichen Autorität, definiert werden:

“And Kant also commits the fallacy of supposing that 'This ought to be' means 'This is commanded'. He conceives the Moral Law to be an Imperative. And this is a very common mistake.”

– G. E. Moore: Principia ethica, Chapter IV: Metaphysical Ethics

Letztbegründung:  Aus der Sicht des US-amerikanischen Philosophen W. W. Bartley ist der naturalistische Fehlschluss schon deshalb unzulässig, weil er die Möglichkeit von Begründungen voraussetzt. Bartley interpretiert jedoch das Münchhausen-Trilemma so, dass es keine absoluten Begründungen geben kann, also kann ein Sollen auch nicht hinreichend durch ein Sein begründet werden. Stattdessen können für ihn nur Konsistenzprüfungen je innerhalb der Mengen der präskriptiven und der deskriptiven Aussagen vorgenommen werden: Man könne prüfen, ob das, was getan werden soll, vereinbar mit anderen Dingen ist, die auch getan werden sollen. Auch könne man das Sollen mit dem Sein kritisieren, indem geprüft wird, ob das, was getan werden soll, auch getan werden kann. Logisch gesehen könne man also ethische Forderungen nicht aus empirischen Theorien herleiten, sondern nur falsifizieren; hier sieht Bartley eine Analogie zum Verhältnis von empirischen Theorien und Beobachtungssätzen  im kritischen Rationalismus.

Sein-Sollen-Fehlschluss: Ein SSF. wird begangen, wenn aus einem Seinssatz ("A ist Q") unmittelbar ein Sollenssatz ("A ist gut") gefolgert wird. Er wird häufig mit dem NF. verwechselt, obwohl beide sehr viele Unterschiede aufweisen: Der SSF. argumentiert auf einer epistemologischen, der NF. hingegen auf einer sprachlichen Ebene. Der SSF. ist eine These über die logische Struktur ethischer Begründungsformen, während der NF. eine These über die Semantik des Adjektivs "gut" ist. Dieses sei, wie wir gelernt haben, undefinierbar und somit auch nicht auf naturalistische Begriffe reduzierbar. Der SSF. hält fest, dass ein Übergang von deskriptiven zu normativen Aussagen durch rein logische Ableitungen nicht möglich ist; damit ist aber nicht ausgeschlossen, dass es normative Sätze gibt, die natürlichen Eigenschaften Wertqualitäten zuordnen, oder dass es normative Sätze gibt, die bestimmte Sollensaussagen unter die Bedingung bestimmter Ist-Aussagen stellen. Unter Hinzunahme solcher Sätze (Brückenprinzipien) ist durchaus ein Übergang von Sein zum Sollen möglich. Allerdings ist er eben nur dann legitim, wenn das verwendete normative Brückenprinzip bereits als geltend anerkannt wurde. Eine Legitimation von Sollen überhaupt nur aus dem Sein ist damit nicht möglich, sondern nur aus anderem Sollen. Nach George Edward Moore sind solche Brückenprinzipien wegen des Arguments der offenen Frage jedoch prinzipiell unzulässig. Für Moore ist daher jeder Übergang vom Sein zum Sollen, den er vor allem naturalistische Ethiken, aber auch metaphysischen Ethiken unterstellt, ein naturalistischer Fehlschluss.

Stand: 2016

Kommentare: 3
  • #3

    ghovjnjv (Donnerstag, 08 September 2022 10:28)

    1

  • #2

    ubaTaeCJ (Donnerstag, 12 August 2021 10:04)

    1

  • #1

    WissensWert (Donnerstag, 12 Januar 2017 05:01)

    https://www.sapereaudepls.de/2014/05/02/fehlschluss-emotionalistischer/


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